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Sag Lebewohl

Sag Lebewohl

Titel: Sag Lebewohl
Autoren: Sandra Todorovic
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Ein Abschied ohne Rückkehr
    Das Leben ist wie ein Sturm auf dem Meer. Unerwartet, machtvoll und trifft einen mit ganzer Wucht. Man schwimmt ums Überleben, holt Luft, um dann wieder unter Wasser gezogen zu werden, bis man aufgibt oder kämpft. Denn nur die Starken überleben.
     
    Wie lebt man mit der Diagnose Krebs? Was geht in einem vor, wenn der Arzt das Unerwartete ausspricht, das mögliche Todesurteil?
    Meine Mutter hat nie darüber gesprochen.
    Ich weiß nur, wie es mir ging. Einem vierzehnjährigen Mädchen, dessen heile Welt innerhalb von Sekunden in sich zusammengebrochen war. Ich hatte den Arzt angestarrt und die Worte vernommen, die aus seinem Mund gekommen waren. Aber es war so unwirklich. Wie ein Traum, wie ein anderes Leben. Meine Mutter weinte. Sie lag in diesem weißen Krankenhauszimmer und weinte leise.
    Was sollte ich tun? Was sollte ich sagen? Ich wusste es nicht, also griff ich nach ihrer Hand und hielt sie fest.
    Sie sah zu meinem Vater hoch und sagte: „Wenigstens haben sie noch dich.“ Er erwiderte, es werde alles wieder gut werden.
    Mein kleiner Bruder saß bei ihr auf dem Bett. Ich weiß nicht, ob er zu diesem Zeitpunkt wusste, was die ganze Situation zu bedeuten hatte.
    Tage vergingen, bis ich wirklich begriff, dass meine Mutter Krebs hatte.
    Krebs.
    Eine Sache, über die man sich als Teenager keine Gedanken macht. Bis man das Mädchen ist, dessen Mutter einen bösartigen Tumor hat und nicht mehr alleine aufstehen kann, weil die Metastasen sich in ihrem Körper ausgebreitet haben und ihr Rücken derart wehtut, dass sie kaum aufrecht stehen, geschweige denn gehen kann.
    Metastasen sind Absiedlungen eines bösartigen Tumors in entferntem Gewebe bei einer Krebserkrankung. Voraussetzung dafür ist, dass der Krebs invasiv wächst, also in die angrenzenden Strukturen hinein, mit Durchbruch in Blut- oder Lymphgefäße.
     
    Die Menschen sehen einen anders an. Mitleidig. Aber ich wollte ihr Mitleid nicht. Ich war der festen Überzeugung, sie würde wieder gesund werden. Die Möglichkeit des Todes verdrängte ich mit aller Macht.
    Sie wünschte sich, nicht im Krankenhaus bleiben zu müssen, deshalb fuhr mein Vater sie selbst jeden zweiten Tag zur Strahlentherapie. Nach einiger Zeit ging es ihr ein wenig besser. Aber die Schmerzen waren nach wie vor da. Sie zeigte sie weder mir, noch meinem Bruder. Aber ich wusste, wenn sie auf den Knopf ihres Morphium-Geräts drückte, litt sie.
    Eine Erinnerung ist so lebendig in meinem Kopf wie fast keine andere. Der letzte Spaziergang, den mein Bruder und ich mit unserer Mutter machten. Der Himmel war blau, ohne eine Wolke. Es war nicht heiß, es war nicht kalt, einfach angenehm. Wir liefen neben einem Bach her, wobei ich eine Fliege verschluckte und mein Bruder mich zehn Minuten lang auslachte.
    Auf einer roten Parkbank, unter einem großen Baum, der seinen Schatten über uns warf, setzten wir uns hin und schauten in die Ferne. Für einen kurzen Moment war es, als wäre die Krankheit nicht da. Ein Augenblick des Friedens, den ich nie vergessen werde.
    Nur ein paar Tage danach begann der Juli mit einem Rückschlag. Der geplante Besuch bei meiner Großmutter in Kroatien musste abgesagt werden, weil sich weitere Metastasen gebildet hatten und der Arzt ihr das Reisen verbot.
    Von diesem Tag an ging es ihr immer schlimmer. Das Knie tat ihr bei jedem Schritt weh. Feste Nahrung konnte sie nicht mehr zu sich nehmen, ohne sie sofort wieder zu erbrechen. Das Einzige, was sie noch einigermaßen vertrug, waren Wassermelonen. Obwohl sie nichts aß, erbrach sie ständig. Zuerst dachte ich, es wären Stückchen von der Melone, doch es stellte sich heraus, dass es Blutklumpen waren.
    Meine Mutter erbrach Blut. Ich war derart überfordert und schockiert, ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.
    Die Arztbesuche wurden zur Tagesordnung und die Bestrahlung abgebrochen. Die Morphium-Dosen gab sie sich in immer kleineren Abständen. Jedoch glaubte ich, dass auch diese nicht mehr viel halfen. Ihre Augen waren wie vernebelt, als wäre der Schmerz ohne Unterbruch anwesend. Sie schlief kaum noch.
    Ich war froh, wenn die Krankenschwestern da waren. Auch wenn es nur ein kurzer Augenblick war, den ich für mich hatte, tat es gut, nicht die Erwachsene spielen zu müssen.
    Der Juli war so rasant an mir vorbeigeflogen, ich wusste nicht, ob ich schlief oder wach war.
    An einem Nachmittag im August beobachtete ich meine Mutter, während ich im Türrahmen stand. Sie lag auf einem
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