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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Autoren: Jane Casey
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gesagt hat. Weiß jemand, ob sie vorhatte, übers Wochenende wegzufahren? Sie wird keinen Ärger bekommen, wir müssen nur wissen, dass sie in Sicherheit ist.«
    Die Mädchen schauten ihn schweigend an. Er hatte zwar ihr Mitleid gewonnen, bekam jedoch keine hilfreichen Antworten. Elaine schaltete sich wieder ein.
    » Ich möchte, dass ihr alle über das, worum euch Mr. Shepherd gebeten hat, sorgfältig nachdenkt. Wenn euch etwas noch so Kleines einfällt, das für uns wichtig sein könnte, dann erwarte ich, dass ihr es uns mitteilt. Ihr könnt mit mir oder Miss Finch vertraulich sprechen oder eure Eltern bitten, mich anzurufen, wenn ihr es lieber ihnen erzählen wollt.« Ihre Miene verfinsterte sich. » Ich bin mir sicher, dass ihr vernünftig genug seid, uns nicht aus falsch verstandener Freundschaft zu Jennifer etwas zu verschweigen.« Dann wandte sie sich an mich. » Sie können jetzt mit Ihrem Unterricht weitermachen, Miss Finch.«
    Ich spürte deutlich, dass Michael Shepherd nur ungern das Klassenzimmer verließ, ohne etwas Brauchbares von den Mitschülerinnen seiner Tochter erfahren zu haben. Doch er hatte keine andere Wahl, als der hinauseilenden Elaine zu folgen. Im Gehen nickte er mir zu, und ich lächelte ihn an, während ich krampfhaft nachdachte, was ich ihm mit auf den Weg geben konnte. Aber noch ehe mir etwas auch nur ansatzweise Sinnvolles eingefallen war, war er schon verschwunden. Er ging mit gesenktem Kopf– wie ein Bulle, der zur Schlachtbank geführt wird: Kraft und Mut hatten ihn verlassen, zurück blieb nur noch Verzweiflung.
    Im Wald verebbte der Verkehrslärm, als hätte jemand hinter mir einen schalldichten Vorhang zugezogen. Die Vögel zwitscherten, und eine leichte Brise wisperte durch die Baumkronen, was sich wie Wasserrauschen anhörte. Das rhythmische Auftreffen meiner Schritte auf dem festen dunklen Boden begleitete meinen keuchenden Atem und wurde hin und wieder vom Schnippen eines dürren Zweiges gegen meinen Ärmel akzentuiert. Hohe, alte Bäume mit knorrigen Stämmen bildeten über mir ein leuchtend grünes Blätterdach. Sonnenlicht drang in schrägen Streifen und gleißend hellen Lichtpunkten hindurch, die von Oberflächen reflektiert wurden und im nächsten Augenblick wieder verschwunden waren. Für einen Moment war ich beinahe glücklich.
    Ich rannte eine lange, steile Steigung hinauf, meine Zehen suchten Halt im modrigen Laub, mein Herz schlug heftig, und meine Muskeln schmerzten. Der Untergrund war dunkel und schwer wie Schokoladenkuchen und federte gerade richtig. Vorigen Sommer war ich auf ausgedörrtem, steinhartem, die Gelenke quälendem Grund gelaufen und im Winter bei lausigen Temperaturen durch schmierigen Schlamm geschlittert, der an meinen Beinen pechschwarze Spritzer hinterließ. Heute dagegen waren die Bedingungen ideal, da gab es keine Ausreden. Ich kämpfte mich tapfer den Weg hinauf und wurde anschließend damit belohnt, dass es wieder bergab ging. Es fühlte sich an, als würde ich fliegen.
    Doch nach einer Weile verflog die Euphorie natürlich wieder. Ich begann die Anstrengung in den Beinen zu spüren, und meine Oberschenkelmuskeln schmerzten. Solche kleineren Beschwerden machten mir beim Laufen zwar nicht viel aus, aber bald darauf begannen sich auch meine Knie zu melden, was schon wesentlich unangenehmer war. Dann trat ich auf dem unebenen Untergrund fehl und verdrehte mir das linke Knie, woraufhin ich einen stechenden Schmerz an der Außenseite meines Oberschenkels spürte. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich überrascht fest, dass schon eine halbe Stunde vergangen war, seit ich das Haus verlassen hatte. Demzufolge war ich bereits fünfeinhalb Kilometer gelaufen. Das reichte aus, um zusammen mit dem Rückweg als passables Pensum durchzugehen.
    Ich machte also kehrt und lief parallel zu jenem Weg zurück, den ich gekommen war. Es hatte stets etwas Frustrierendes, auf dem Rückweg über denselben Untergrund zu laufen wie auf dem Hinweg; ich mochte das überhaupt nicht. Diesmal ging es auf einem schmalen Grat entlang, der zu beiden Seiten steil abfiel. Der Pfad war voller Geröll und knorriger Wurzeln. Ich verlangsamte mein Tempo, damit ich nicht umknickte, und richtete meinen Blick starr zu Boden. Trotzdem passierte es. Auf einer glatten Wurzel, die steil nach unten ragte, rutschte ich aus. Mit einem unterdrückten Schrei fiel ich mit ausgestreckten Händen der Länge nach hin. Einen Moment lang blieb ich schwer atmend so liegen. Der Wald um mich herum
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