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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Autoren: Jane Casey
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der Unterlippe zeichnete sich eingetrocknetes Blut als schmale dunkle Linie ab.
    Sie lag dort, wo sie jemand nach der Tat abgelegt und so platziert hatte, wie sie gefunden werden sollte. Die Haltung war in grotesker Weise einer Aufbahrung nachempfunden, wie sie Bestatter üblicherweise vornehmen, eine Imitation von Würde. Doch das konnte nicht von dem ablenken, was man ihr angetan hatte. Missbraucht, verletzt, beseitigt, tot. Gerade einmal zwölf Jahre alt. Nichts von all ihren unendlichen Möglichkeiten war geblieben, nur eine leere Hülle in einem stillen Wäldchen.
    Zunächst hatte ich Jennys Leichnam beinahe teilnahmslos, eher nüchtern analytisch betrachtet, ohne wirklich zu begreifen, was ich da vor mir sah. Doch nun war es, als wäre in meinem Kopf ein Damm gebrochen, sodass mir das ganze Ausmaß des Grauens in einem gewaltigen Schwall zu Bewusstsein kam. All meine Befürchtungen um Jenny hatten sich bestätigt, und es war noch weitaus schlimmer, als ich mir jemals hätte vorstellen können. Das Blut toste in meinen Ohren, und der Boden unter meinen Füßen geriet ins Wanken. Ich hielt meine Wasserflasche mit beiden Händen umklammert, deren geriffelte Plastikoberfläche sich kühl und angenehm vertraut anfühlte. Obwohl ich schweißüberströmt war, zitterte ich vor Kälte. Wogen von Übelkeit überkamen mich, ich schauderte und vergrub den Kopf zwischen den Knien. Es gelang mir nicht, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Ich war wie gelähmt, und der Wald um mich herum hörte nicht auf, sich zu drehen. Einen Augenblick lang sah ich mich selbst in Jennys Alter vor mir– dasselbe Haar, dieselbe Gesichtsform. Aber ich war nicht tot, ich war es, die lebte…
    Ich weiß nicht, wie lange ich gebraucht hätte, wieder zu mir zu kommen, wenn ich nicht unvermittelt dazu gebracht worden wäre. Irgendwo hinter mir, nicht sehr nahe, jaulte ein Hund auf, eindringlich, verstummte dann jedoch, als hätte ihn jemand zum Schweigen gebracht. Rasend schnell strömte mein Bewusstsein zurück zu mir.
    Was, wenn ich nicht allein war?
    Ich stand auf und schaute mich ängstlich auf der kleinen Lichtung um, ob sich in meiner Nähe etwas regte. Ich stand neben einer Leiche, die dort jemand– vermutlich der Mörder– versteckt hatte. Und Mörder kehrten gelegentlich an den Ort der Tat zurück, wie ich gelesen hatte. Ich schluckte und hatte vor lauter Angst einen Kloß im Hals. Der durch die Bäume rauschende Wind übertönte alle anderen Geräusche, und ich zuckte zusammen, als irgendwo rechts von mir ein Vogel aus seinem Versteck aufflatterte und durch die Zweige davonflog. Was hatte ihn aufgeschreckt? Sollte ich um Hilfe rufen? Aber wer würde mich mitten im Wald hören, wohin ich extra entflohen war, um allein zu sein? Dumme, dumme Sarah…
    Ehe ich vollends in Hysterie verfiel, gewann doch noch der gesunde Menschenverstand die Oberhand in mir. Ich war wirklich dumm gewesen, schließlich hatte ich doch mein Handy in der Tasche, das ich nur benutzen musste. Vor Erleichterung fast schluchzend, zerrte ich es hervor und geriet erneut in Panik, als die Empfangsanzeige auf dem aufleuchtenden Display lediglich einen einzigen Balken anzeigte. Das reichte nicht aus. Atemlos kraxelte ich die steile Böschung wieder hinauf und hielt dabei das Telefon fest umklammert. Es war schwer hinaufzukommen, und ich versuchte verzweifelt, mit meiner freien Hand an Grasbüscheln und Wurzeln Halt zu finden, die jedoch in der weichen Erde leicht nachgaben. Bitte, bitte, bitte, hämmerte es in meinem Kopf. Als ich oben ankam, erschienen in der Anzeige zwei weitere Balken. Ich lehnte mich mit dem Rücken an einen hohen alten Baum und tippte mit zitternden Händen den Notruf 999 ein. Es war ein seltsam unwirkliches Gefühl. Mein Herz schlug so heftig, dass der dünne Stoff meines Oberteils vibrierte.
    » Rettungsleitstelle, welchen Notdienst brauchen Sie?«, fragte eine leicht näselnde Frauenstimme.
    » Die Polizei«, keuchte ich, noch immer ganz außer Atem vom Erklimmen der Böschung und dem Schrecken, der mir in den Gliedern saß. Es kam mir vor, als hätte jemand meinen Brustkorb mit einem festen Band eingeschnürt, das meine Rippen zusammenpresste. Ich konnte einfach nicht tief genug Luft holen.
    » Einen Moment bitte, ich verbinde.« Sie hörte sich derart gelangweilt an, dass ich beinahe lachen musste.
    Dann klickte es und eine andere Stimme sagte: » Hallo, Sie sind mit der Polizei verbunden.«
    Ich schluckte. » Ja also, ich… ich habe eine
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