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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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geherrscht hatte, war nichts im Vergleich zu dem Wahnsinn, dem er jetzt begegnete. Der Verkehr war schlimmer als alles, was er je erlebt hatte. Die Seitenstraßen waren völlig verstopft, ebenso die West End und Amsterdam Avenue, auf denen der Verkehr Richtung Norden lief. Der Broadway war für Rettungsfahrzeuge reserviert, die mit heulenden Sirenen die Straße hinunterrasten. Die Ampeln waren ausgefallen und die Fahrer stellten ihre eigenen Verkehrsregeln auf. Keiner nahm noch auf irgendwen Rücksicht, und Alex musste jedes Mal rennen, wenn er eine Straße überqueren wollte. Nur wenige Passanten waren unterwegs, und die Geschäfte hatten alle ihre Stahlgitter heruntergelassen. Der Lärm der Sirenen, der hupenden Autos und brüllenden Fahrer war ohrenbetäubend.
    Die St. Vincent de Paul Academy lag an der Ecke 73 th Street und Columbus Avenue, und solange das Wetter nicht richtig schlecht war, ging Alex die Strecke immer zu Fuß. Der Himmel wirkte bedrohlich, aber das Gewitter, mit dem er schon am Vorabend gerechnet hatte, ließ noch auf sich warten. Schweiß stand ihm auf der Stirn, aber er hätte nicht sagen können, ob die Hitze, die Rennerei oder seine Angst der Grund dafür war. Julie hatte Recht. Er konnte überhaupt nichts versprechen.
    Als er schließlich vor dem mehrstöckigen Backsteingebäude seiner Schule stand, entdeckte er einen Zettel an der Tür. BIS MONTAG GESCHLOSSEN .
    Das überraschte Alex zwar nicht, aber enttäuscht war er doch. Die Schule war für ihn immer ein Zufluchtsort gewesen, und er hatte gehofft, hier jemanden zu treffen, von dem er Genaueres über die jüngsten Ereignisse erfahren konnte. Auch wenn er es eigentlich gar nicht so genau wissen wollte.
    Er machte wieder kehrt und im gleichen Moment brach das Gewitter los. Blitze zuckten und der Donner dröhnte. Er ärgerte sich, dass er keinen Schirm mitgenommen hatte und dass er überhaupt vor die Tür gegangen war. Die U-Bahnen würden wegen des Stromausfalls wahrscheinlich gar nicht fahren.
    Er lief zur Station an der 72 nd Street, doch der Eingang war mit einer Kette versperrt. Nicht weit entfernt stand ein völlig durchnässter Polizist und sah den Rettungswagen zu, die den Broadway hinunterrasten.
    Alex wies fragend auf die U-Bahn-Station.
    »Geschlossen«, sagte der Polizist. »Die Tunnel sind alle überschwemmt.«
    »Danke«, sagte Alex. Er hätte gern gefragt, was diese Überschwemmungen verursacht hatte, aber es regnete zu stark für ein längeres Gespräch. Er rannte den ganzen Weg nach Hause zurück und als er dort ankam, war er nass bis auf die Haut.
    »Die Schule ist bis Montag geschlossen«, sagte er. »Hat Mamá angerufen?«
    Briana schüttelte den Kopf. »Julie ist wieder ins Bett gegangen«, sagte sie. »Du bist ja patschnass.«
    »Ich weiß«, antwortete er. »Ich zieh mir etwas Trockenes an und lege mich dann auch noch mal hin. Weck mich spätestens am Montag wieder, okay?«
    Briana lachte. »Schlaf gut«, sagte sie. »Wenn du aufwachst, ist Mamá bestimmt wieder da und alles wird gut.«
    »Das glaube ich auch«, sagte Alex, aber er wusste, dass das ein Märchen war. Während er seine Schuluniform zum Trocknen aufhängte und Jeans und T-Shirt überstreifte, musste er ständig an die überfluteten U-Bahn-Tunnel denken. Die Linie, mit der Mamá nach Queens fuhr, verlief auch unterirdisch. Aber gestern Abend, als sie gefahren war, musste doch noch alles in Ordnung gewesen sein. Trotzdem wusste er, dass er erst wieder Ruhe finden würde, wenn er von ihr gehört hatte.
    Das Bett sah sehr einladend aus. Aber erst kniete er sich noch hin, bekreuzigte sich und betete um Schutz für seine Mutter, seinen Vater und seinen Bruder, für seine Schwestern und für sein Land und für die ganze Welt.
    Herr, erbarme dich unser, betete er. Und gib mir Kraft.
    Erst dann gestattete er sich die Flucht in den Schlaf.

 
    ZWEI
    Freitag, 20 . Mai
    Alex war schon wach, als sein Wecker anfing zu blinken, 00:00 , 00:00 . Er sah auf seine Armbanduhr. 6:45 Uhr.
    Er hörte das Brummen des Kühlschranks, der wieder angesprungen war, aber sonst war es still in der Wohnung. Rasch warf er sich den Morgenmantel über und schlich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer, um Bri und Julie nicht zu wecken. Die Tüten voller Lebensmittel, die überall herumstanden, wirkten heute fast schon lächerlich – eine verrückte Aktion an einem verrückten Tag.
    Alex schaltete den Fernseher ein, setzte sich dicht vor den Bildschirm und drehte den Ton so leise wie möglich,
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