Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York
Autoren: Susan Beth Pfeffer
Vom Netzwerk:
um seine Schwestern nicht zu stören. Er bekam nur zwei Programme rein, aber es ging ihm ja auch nicht um Vielfalt, sondern um Informationen. Beide Sender brachten Nachrichten und konzentrierten sich ausschließlich auf die Folgen der Katastrophe.
    Der erste berichtete gerade über die Situation in Europa. Das konnte warten, fand Alex und schaltete auf das andere Programm. Hier kamen Berichte über die Lage in den Vereinigten Staaten: nach wie vor keine Nachricht von Überlebenden auf den Inseln vor North und South Carolina. Verheerende Zustände am Cape Cod.
    Eine Viertelstunde lang verlas der Sprecher Schreckensnachrichten aus dem ganzen Land, bis er sich schließlich dem New Yorker Raum zuwandte. Alex saß reglos da, den Ton so leise gestellt, dass er gerade noch alles verstehen konnte. Aber auch so brachen die Worte und Bilder wie eine Woge über ihn herein. Entsetzliche Opferzahlen. Lower Manhattan fast ausgelöscht. Staten Island, Long Island verwüstet. Stromausfälle, Plünderungen, Krawalle. Ausgangssperre von acht Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Sechs Meter hohe Flutwellen, die Menschen, Bäume und sogar Gebäude mit sich rissen. Zwangsevakuierungen. Flugzeugabstürze. Unzählige Todesopfer in Autos und U-Bahnen auf Grund der Tunnelüberflutungen.
    An die Menschen, die in der U-Bahn von der ersten Flutwelle überrascht worden waren, hatte Alex noch gar nicht gedacht.
    Panik erfasste ihn, und er konnte sich nur mühsam zur Ruhe zwingen. Es war doch ganz leicht, herauszufinden, was mit seiner Mutter war. Er brauchte nur im Krankenhaus anzurufen und sich ihre Anwesenheit bestätigen zu lassen. Klar, während der Arbeit durfte sie nur in dringenden Fällen gestört werden, aber sie hatten jetzt seit mehr als vierundzwanzig Stunden nichts von ihr gehört, und das war doch wohl dringend genug.
    Die Nummer des Krankenhauses stand auf dem Notizblock neben dem Telefon, und schon ihr Anblick tröstet ihn ein wenig. Er nahm den Hörer ab, aber die Leitung war tot.
    Im ersten Moment drehte er völlig durch. Wenn die Leitung tot war, war auch Mamá tot. Dann wurde ihm klar, wie albern dieser Gedanke war, und er musste ein Lachen unterdrücken. Kein Wunder, dass sie nichts von ihr gehört hatten! Es war schon erstaunlich, dass das Telefonnetz überhaupt so lange gehalten hatte, dass Papá und Carlos sie noch hatten erreichen können.
    Alex ging wieder zum Fernseher und schaltete auf den Sender mit den internationalen Nachrichten. Der Moderator fragte gerade einen vornehm aussehenden Wissenschaftler, wann sich dessen Einschätzung nach die Lage wieder normalisieren würde.
    »Vielleicht nie wieder«, antwortete der. »Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber ich wüsste nicht, wie es uns Menschen gelingen sollte, den Mond in seine alte Umlaufbahn zurückzubringen.«
    »Aber irgendwie muss es doch möglich sein«, sagte der Moderator. »Die NASA arbeitet sicher schon Tag und Nacht an einer Lösung.«
    »Selbst wenn sie eine finden, wird es Monate, vielleicht Jahre dauern, sie umzusetzen«, erwiderte der Wissenschaftler. »Und was wir gestern erlebt haben, ist harmlos im Vergleich zu dem, was noch auf uns zukommt.«
    »Das heißt aber jetzt nicht, dass wir alle in Panik ausbrechen müssen«, sagte der Nachrichtensprecher mit jener betont ruhigen Alles-wird-gut-Stimme, die Alex schon von früheren Katastrophenmeldungen aus dem Fernsehen kannte. »Panik ist jetzt sicherlich am wenigsten geraten.«
    Aber bevor Alex erfahren konnte, was der Wissenschaftler als Alternative zur Panik vorschlug, fiel der Strom wieder aus.
    Alex fluchte leise. Kein Telefon, kein Strom und zwei kleine Schwestern, die von ihm abhängig waren, bis seine Eltern zurückkamen. Gott wollte ihm das Leben offenbar nicht leicht machen.
    Allen anderen aber auch nicht, dachte er. U-Bahn-Tunnel unter Wasser. Katastrophen überall auf der Welt. Wie viele Menschen mochten in den letzten beiden Tagen ums Leben gekommen sein? Tausende? Millionen? Wann würde Carlos wieder an seinen Stützpunkt zurückkehren? Wann würde Papá aus Puerto Rico zurückkommen, und wann würden sie Mamá nach Hause gehen lassen?
    Schluss jetzt, ermahnte er sich selbst. Du klingst schon wie Tante Lorraine. Eine dramática in der Familie ist genug. Wie bedrohlich die Lage auch sein mochte, er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Nicht, solange er für Briana und Julie verantwortlich war.
    Alex ging in sein Zimmer, um sein Notizbuch zu holen. Wissen war der Feind der Angst.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher