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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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Vor jeder Debatte listete er immer die Stärken und Schwachstellen seines Standpunkts auf. Das würde er jetzt auch tun.
    Er teilte die Seite in drei Spalten und überschrieb sie mit: WAS ICH WEISS – WAS ICH GLAUBE – WAS ICH NICHT WEISS .
    Unter WAS ICH WEISS notierte er:
    Keine U-Bahn
    Überschwemmungen
    Mond näher an der Erde
    Carlos okay
    Bri und Julie okay
    Montag Schule
    Es hatte wohl wenig Sinn, aufzulisten, was er über Europa oder Massachusetts wusste. Sollten die Menschen dort doch ihre eigenen Listen anfertigen.
    Er knabberte an seinem Stift und dachte nach. Dann schrieb er: Genug zu essen im Haus.
    Vorausgesetzt natürlich, dass Julie nicht nur Pilze und Schokoriegel eingepackt hatte.
    Aber Mamá hatte mittwochs ihren freien Tag, und auch am vergangenen Mittwoch hatte sie bestimmt den üblichen Großeinkauf gemacht. Alex nahm sich vor, in den Küchenschränken nachzuschauen, aber es sah nicht so aus, als müssten sie sich in nächster Zeit Sorgen ums Essen machen.
    Er sah wieder auf seine Listen hinunter. Unter WAS ICH NICHT WEISS notierte er: Wie lange es dauern wird, bis sich die Lage wieder normalisiert.
    Das wusste offenbar niemand. Was aber nicht heißen musste, dass sie es nicht doch irgendwann tun würde. Vielleicht hatte er einfach nur Pech gehabt und den einzigen pessimistischen Wissenschaftler im Fernsehen erwischt.
    Außerdem, so rief er sich in Erinnerung, hatte New York bisher noch immer überlebt. Das musste es auch einfach. Ganz Amerika, ja, die ganze Welt war angewiesen auf diese Stadt. Vielleicht würde es eine Weile dauern und vielleicht wäre auch eine Menge politischer Einfluss vonnöten, aber irgendwann würde sich New York auch von dieser Katastrophe erholen. Er lebte in der tollsten Stadt der Welt, und was diese Stadt so toll machte, waren ihre Bewohner. Er war ein New Yorker mit puerto-ricanischer Herkunft, zum Kämpfer geboren und erzogen.
    Puerto Rico. Bri hatte mit Papá gesprochen. Er nahm den Stift und notierte unter WAS ICH WEISS : Papá in Puerto Rico okay , bis ihm klar wurde, dass er das eigentlich gar nicht wusste.
    Was genau hatte Briana gesagt? Sie war ans Telefon gegangen, die Verbindung war sehr schlecht gewesen, sie glaubte, gehört zu haben, wie ein Mann »Puerto Rico« sagte, und sie war der Meinung, es sei Papá gewesen.
    Papás Familie stammte aus Milagro del Mar, einer Kleinstadt zwischen San Juan und Fajardo, an der Nordküste von Puerto Rico. Als Nana letzten Sonntag gestorben war, war Alex zwar traurig gewesen, aber im Grunde hatte er sie kaum gekannt. Dabei war sie die Letzte seiner Großeltern gewesen, denn die Mutter seiner Mutter war schon vor seiner Geburt gestorben, und zu ihrem Vater hatte Mamá keinen Kontakt. Aber er war trotzdem nicht zu Nanas Beerdigung gefahren. Seine Mutter konnte nicht weg, weil sie gerade erst die neue Arbeit angefangen hatte, und auch für Carlos war die Entfernung zu groß. Also war sein Vater allein nach Puerto Rico geflogen, um sich in der kleinen Küstenstadt mit seinen beiden Brüdern und deren Familien zu treffen.
    Vielleicht war es gar nicht Papá gewesen, der angerufen hatte. Vielleicht war es einer seiner Brüder gewesen. Oder jemand hatte sich verwählt und nach »Peter und Ricky« gefragt, und Bri hatte nur gedacht, er hätte »Puerto Rico« gesagt.
    Wieder musste sich Alex zur Ruhe ermahnen. Letztlich spielte es überhaupt keine Rolle, ob das nun Papá am Telefon gewesen war oder nicht. Es gab keinen Grund, gleich das Schlimmste anzunehmen, aber man konnte sicher davon ausgehen, dass er am Samstag noch nicht nach Hause kommen würde. Selbst wenn plötzlich wieder alles wie durch ein Wunder in Ordnung kam, würde es zahlreiche Verspätungen geben, genau wie im Winter bei Schnee und Eis. Wenn es schon in New York keinen Strom und kein Telefon mehr gab, dann wohl erst recht nicht in San Juan.
    Das Bild einer sechs Meter hohen Flutwelle tauchte plötzlich vor seinem inneren Auge auf. Welchen Schutz konnte ein Städtchen wie Milagro del Mar dagegen bieten? Konnte das überhaupt jemand überleben?
    Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Solche Gedanken waren gefährlich, ebenso gefährlich, wie an überflutete Tunnel zu denken und an Menschen, die in der U-Bahn ertranken. Solange er nichts Gegenteiliges hörte, würde er davon ausgehen, dass Papá in Puerto Rico war und Mamá in Queens und dass es beiden gut ging. Am besten schrieb er einfach gar nichts über sie auf.
    Alex starrte auf seine Listen. Unter WAS ICH GLAUBE
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