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Die Vergessenen

Die Vergessenen

Titel: Die Vergessenen
Autoren: Bastei Lübbe
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genau wie er es damals getan hatte.
    »Religiöses Geschwätz«, sagte sie. »Nachdem er Ihnen die Maske abgenommen hatte, schnitt er auch das Gesicht herunter. Er entfernte die weiche Materie Ihres Schädels bis hin zu den Mandeln. Warum er Ihnen ein Auge ließ, das bleibt ein Rätsel. Vielleicht ist er eher ein Künstler als ein Techniker. Sie können nicht reden, weil Sie keine Lippen oder Zunge mehr haben, und Sie können nicht blinzeln, weil sie keine Augenlider mehr haben.«
    Seine Rezitation stockte. Er hatte einen Albtraum, das war es. Die ganze Situation schien ihre eigene innere Logik zu haben, aber wenn man sie aus der Distanz betrachtete, wurden die Ungereimtheiten deutlich. Was war das da drüben? Etwas bewegte sich am Ende der Baracke, dort, wo dieser große Schatten lauerte …
    »Er ging sogar noch weiter«, fuhr sie fort. »Ihr Schädel weist zahlreiche Löcher auf, zahlreiche Einschnitte, Blutungen, etwas, das wie Kaustik aussieht, und die Reste von Faserverbindungen, wie man sie mit einem Verstärker hat. Alle Gesichtsnerven wurden bis auf die Wirbelsäule zurückgestutzt. Diese Schäden übersteigen die Wiederherstellungstechnik, die mir hier zur Verfügung steht. Bis echter Polis-Sachverstand eintrifft, kann ich für Sie nur das hier tun.«
    Sie zog das Tuch von dem Gegenstand auf dem Bett herunter und legte damit einen haarlosen Menschenschädel frei, der aus einem blanken weißen Material hergestellt worden war. Er wies ein Auge auf, gelb wie altes Glas, während das andere fehlte. Jem starrte auf dieses gelbe Auge und wandte dann den Blick ab, aber es schien ein Nachbild zu hinterlassen. Ein Klicken ertönte, und er blickte in bodenlosem Grauen wieder hin, nur um festzustellen, dass die Frau den Kopf wie eine Muschel aufgeklappt und dadurch das glänzende elektronische Innenleben freigelegt hatte.
    »Er ist mit einer Sonderzustellung eingetroffen«, sagte sie, runzelte verwirrt die Stirn und fuhr fort: »Wie der Stimmgenerator erkennt er relevante Nervenaktivität und überträgt sie in Aktion. Mit seiner Hilfe können Sie reden und essen, und auch der Geruchssinn wird wieder funktionieren. Außerdem leitet er Blut in die darunterliegenden Knochen und verhindert so deren Absterben.«
    Sie tippte auf einen Klumpen im offenen Schädel, drehte diesen um und öffnete den Mund, wodurch eine durchgängig weiße Zunge sichtbar wurde. Jem wurde klar, dass der Klumpen, auf den sie getippt hatte, die Auskleidung des Mundes gewesen war, von der Innenseite des Schädels aus betrachtet. Sie drehte den Kopf erneut, deutete auf das gelbe Auge und nahm die wurmähnliche Verbindung zur Hand, die an diesem hing.
    »Der Kapuzler hat Ihnen den Sehnerv belassen, und obwohl er etwas Merkwürdiges damit angestellt hat, können wir trotzdem eine Verbindung herstellen, damit Sie wieder ein binokulares Sichtfeld erhalten.« Sie deutete jetzt auf sein Gesicht. »Er hat Ihnen die Trommelfelle gelassen, weshalb Sie mich hören, aber mit den Zusatzschaltungen dieser Prothese verbessert sich auch Ihr Hörvermögen.«
    Sie klappte den Kopf zu, und da war wieder dieses gelbe Auge. Er versuchte das Nachbild von eben durch Blinzeln loszuwerden, brachte dies nicht zuwege und hatte jetzt erst zwei Nachbilder, dann drei. Die Dunkelheit hatte sich ausgebreitet und füllte inzwischen die halbe Baracke, und dieses insektenhafte medizinische Gerät schien viel größer als zuvor.
    »Ich … glaube Ihnen nicht«, brachte er hervor.
    Sie seufzte, nahm den Spiegel zur Hand und hielt ihm diesen vors Gesicht. Ein Schädel mit einem feucht glänzenden Auge ineiner der Augenhöhlen grinste ihm entgegen. Dann fand er sich blind in Dunkelheit wieder, und das medizinische Gerät ragte über ihm auf. Gelbe Nachbilder vermehrten sich weiterhin und bildeten zwei Reihen gelber Augen. Der Stimmgenerator schrie, ein wunder entsetzlicher Laut. Jem begann, irgendwohin zu stürzen, und euklidische Formen blitzten rings um ihn auf und umwirbelten ihn wie Schneeflocken.
    »Okay, das ist nicht besonders gut gelaufen«, sagte jemand.
    Aber Jem war fort.
    »Gut, sie sind hier«, sagte Sanders. »Das ist der abschließende Nagel für den Sarg der Theokratie – sie ist am Ende.«
    In Jem blitzte frustrierter Zorn angesichts dieser Gewissheit auf. Wie war nur möglich, dass Sanders eines nicht verstand: Die Polis hatte als politische Einheit, die von gottlosen Maschinen geleitet wurde, keine Zukunft. Sie war eine Konstruktion, errichtet auf einem
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