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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Autoren: Sabine Bode
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»Nie wieder Auschwitz!« bewegte. Dass wir die Kinder des Kalten Krieges gewesen waren, wurde mir erst nach und nach bewusst, als diese Epoche endgültig vorbei war: die Einäugigkeit der Argumentation, die blinden Flecken, nicht mehr und nicht weniger als beim Rest der Gesellschaft. Zum Beispiel kann ich mich nicht erinnern, dass in der christlich geprägten Friedensgruppe, der ich einmal angehörte, jemals in Betracht gezogen wurde, ob vielleicht der Furcht »vor dem Russen« auch eine traumatische Erfahrung zugrunde lag.
Ein erhellendes Seminar
    Anfang der Neunzigerjahre änderte sich meine Sichtweise. Damals besuchte ich ein sehr erhellendes Seminar, und plötzlich erinnerte ich mich an eine extrem aufgeregte Frauenstimme, die ich zehn Jahre zuvor im Radio hatte sagen hören: »Ich würde alles tun, um mich vor dem Russen zu schützen. Ich würde sogar eine Rakete in meinen Vorgarten stellen!«
    In diesem Seminar ging es darum, aus Anlass der Wiedervereinigung die eigene Familiengeschichte vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte genauer zu betrachten. Ich war nicht die Einzige, die befürchtete, die Nähe der eigenen Eltern und Großeltern zum Nationalsozialismus wäre größer gewesen, als sie stets behauptet hatten. Was sich dann auch im Laufe der viertägigen Veranstaltung bestätigte.
    Zur Vorbereitung hatten wir Familienforschung betrieben, dasheißt alle Daten und Fakten zusammengetragen, die von 1930 bis 1950 innerhalb der engeren Verwandtschaft bestimmend gewesen waren: Geburt, Krankheit, Tod, Umzüge, Berufswechsel, Fronteinsätze, Verwundungen und so weiter. Alle Teilnehmer zeigten sich erstaunt über die Tatsache, wie wenig ihnen über ihre Familien bekannt war. Das war die erste Gemeinsamkeit. Die zweite Gemeinsamkeit bestand darin, zu erkennen, dass wir zwar über die Einstellungen und Funktionen unserer Eltern in der Nazizeit recht gut Bescheid wussten, aber emotional und faktisch kaum erfassen konnten, was der Krieg in unseren Familien angerichtet hatte.
    Einige Seminarteilnehmer hatten ihn noch als Kinder miterlebt. Aber auch für die später Geborenen wurde deutlich, dass der Krieg eine bestimmende Komponente in ihrer Biografie war, zum Beispiel dann, wenn die Eltern durch Flucht, Hunger, Bomben oder den Verlust von Angehörigen traumatisiert waren. Alle zwölf Teilnehmer wussten von mindestens einem Fall von Gewalt in der Familie. Die Stichworte hießen: ausgebombt, verschüttet, gefallen, vermisst, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung, Gefangenschaft, Selbstmord. Die Zahl der Toten in der engeren Verwandtschaft, die auf das Konto Krieg ging, war jedenfalls größer als die Zahl der Teilnehmer. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass sie ganz durchschnittliche deutsche Familien repräsentierten und dass es sich nicht um eine extrem heimgesuchte Gruppe handelte.
Nazivergangenheit und Kriegsvergangenheit
    Am dritten Tag hatte sich die Veranstaltung zu einem Trauerseminar entwickelt. Es wurde unendlich geweint. Zu erschütternd war das, was nach fünfzig Jahren ans Tageslicht kam. Seitdem ist mir klar, dass wir Deutschen eine Nazivergangenheit und eine Kriegsvergangenheit haben. Über die eine wird inzwischen offen gesprochen, bei der anderen fängt der Austausch gerade erst an.Noch sind die Kinder dieses Krieges zurückhaltend. Noch wollen sie, dass ihre Geschichte anonymisiert veröffentlicht wird.
    Natürlich hat die Trennung zwischen Nazivergangenheit und Kriegsvergangenheit etwas Künstliches, aber ich glaube, wir können darauf nicht verzichten, weil das Schicksal der Kriegskinder fast sechzig Jahre lang von den Verbrechen der Nazis verschattet wurde. Die Kindergeneration litt – weit mehr als die ihrer Eltern – darunter, dass sie jenem Volk angehörte, das Hitler an die Macht gebracht hatte. Scham und Schweigen erschwerten den Zugang zu den eigenen seelischen Verletzungen durch Gewalt und Verluste. Den meisten ehemaligen Kriegskindern liegt es völlig fern, sich selbst als Opfer zu sehen, auch dann, wenn sie ein oder zwei Jahre lang im Luftschutzkeller gehockt haben.
    Wir stehen gerade am Anfang eines gesellschaftlichen Prozesses, der darauf hinweist, dass die in den Sechzigerjahren von Alexander und Margarete Mitscherlich diagnostizierte »Unfähigkeit zu trauern« bis heute nachwirkt und dass sie sich nicht nur auf die Nazizeit, sondern auch auf die Kriegsfolgen bezieht.
    Wenn ich Menschen aus meinem Bekanntenkreis nach langer Zeit wiedersehe, werde ich oft gefragt: »Woran
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