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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Autoren: Sabine Bode
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arbeitest du gerade?« Um Missverständnissen vorzubeugen, was mir aber meistens nicht gelingt, beschreibe ich das heikle Thema immer bewusst ausführlich: »Es geht um die Frage, wie sich der Zweite Weltkrieg auf das Leben derjenigen Deutschen ausgewirkt hat, die damals Kinder waren.«
    Typisch war die Reaktion eines Lehrers. Er sprudelte los, er habe gerade wieder einmal seine Schüler mit Anne Frank und den Geschwistern Scholl vertraut gemacht. Man müsse sich als Pädagoge für die Vermittlung der Nazivergangenheit viel Zeit nehmen.
    Schließlich, als der Lehrer das eigentliche Thema erfasst hatte, ging er zum Angriff über: Wie ich darauf käme, Kriegszeit und Nazizeit zu trennen? Das sei doch unmöglich! Ob ich etwa die Seiten gewechselt hätte? Gehe es mir jetzt darum, die Deutschen als Opfer zu stilisieren?
    »Du selbst wurdest doch 1940 in Berlin geboren«, sagte ich.»Was hat dich in deiner Kindheit mehr bestimmt: die Nazis oder Bomben und Hunger?«
    Mein Gegenüber wurde heftig: »Begreifst du das immer noch nicht?! Ohne die Nazis hätte es für meine Familie die ganzen Kriegserlebnisse nicht gegeben!«
    »Muss ich mir das so vorstellen«, fragte ich weiter, »dass du dich später mit den Schrecken des Nationalsozialismus beschäftigt hast – aber nicht mit deiner eigenen Kriegskindheit?«
    »Genau«, bestätigte er. »Der Krieg war vorbei, als ich acht Jahre alt war. Ehrlich, du nervst mich mit den alten Geschichten . . .«
    Aber genau diese verschwiegenen Geschichten, die eine ganze Generation und teilweise wohl auch noch deren Kinder prägten, müssen erzählt werden. Sie sind wichtig für die Einzelnen und für die Identität und die Zukunft der Deutschen als Europäer.
Eine tüchtige Generation
    Warum träumt Gudrun Baumann* immer wieder, sie müsse eine Brille haben, obwohl sie längst eine besitzt? Wieso standen dem kernigen Kurt Schelling* plötzlich, mit 45 Jahren, ständig Tränen in den Augen? Wie kommt es, dass Wolfgang Kampen* in Israel, auf dem Höhepunkt der Gewalt, keine Angst vor Selbstmordanschlägen hatte? Sonderbare Fragen tauchen auf, wenn man sich heute mit Menschen beschäftigt, die im Zweiten Weltkrieg noch Kinder waren. Davon gibt es Millionen. Sie befinden sich im Ruhestand.
    In der Tat ist nicht zu erkennen, dass ihnen das frühe Drama in besonderer Weise zugesetzt hätte. Offenbar ist es ihnen gut gelungen, ihre Erinnerungen an Tod, Bomben, Vertreibung und Hunger auf Distanz zu halten. Sie sind nicht kränker und auch nicht ärmer als frühere vergleichbare Altersgruppen. Im Gegenteil. Noch nie hat es in Deutschland Senioren gegeben, denen es finanziell so gut ging wie den heute Sechzig- bis Siebzigjährigen. Sie bauten das zerstörte Deutschland wieder auf, gründeten eigeneFamilien und stellten, sofern sie zu den rebellierenden Studenten gehörten, die deutsche Nachkriegskultur radikal infrage.
    Eine viel beschäftigte, tüchtige Generation. Sie kann auf ihre Lebensleistung stolz sein. Und wer sich bei Männern der frühen Dreißigerjahrgänge auskennt, der weiß, dass sie auch auf ihre Zähigkeit stolz sind. In ihren Augen halten die später Geborenen längst nicht so viel aus wie sie selbst ...
    Eine fürsorgliche Generation. Man kümmert sich um die uralten Eltern, verwöhnt die Enkel, entlastet seine Kinder und tröstet mit Geld und guten Worten, wenn jemand in der Familie arbeitslos geworden ist. Damit ist eigentlich schon alles gesagt, was diese Generation an Gemeinsamkeiten erkennen lässt, außer: Es fällt den Älteren schwer, Brot wegzuwerfen.
    Eine unauffällige Generation. Man weiß nichts über sie. Man redet so gut wie nie über sie. Und sie selbst, die zwischen 1930 und 1945 Geborenen, haben gerade erst angefangen, darüber nachzudenken, wie ihre Kriegskindheit das weitere Leben geprägt haben mag. Aber genau das wäre doch interessant zu erfahren; es ginge also nicht um den Krieg an sich, denn dass der Krieg eine Zeit des Schreckens war, ist allgemein bekannt; damit erführe man im Prinzip nichts Neues.
    Neu dagegen ist das nun langsam wachsende Bewusstsein davon, dass die ehemaligen Kriegskinder im eigenen Land fast sechzig Jahre lang schlichtweg übersehen wurden. Ihr Schicksal interessierte nicht. Es wurde nicht erforscht. Wer heute Angehörige der Dreißigerjahrgänge nach den möglichen Kriegsfolgen in ihrem weiteren Leben befragt, wird womöglich den Satz hören: Es hat uns nicht geschadet .
    Kann das sein? Der gesunde Menschenverstand sträubt sich, es
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