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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Autoren: Sabine Bode
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begleitet werden und es auch in ihren Träumen keinerlei Hinweise dazu gibt, kamen sie bis vor Kurzem nicht auf die Idee, sie könnten durch Kriegserlebnisse belastet sein, und ihre Symptome blieben für die Ärzte rätselhaft. Heute hat sich in der Medizin herumgesprochen, dass ein nicht unerheblicher Teil der älteren Patienten unter Kriegstraumata leidet. Noch sind die Hilfsangebote für diese Kranken nicht ausreichend, aber es wächst die Aufmerksamkeit für die Hintergründe ihrer Beschwerden, vor allem auch in der Altenpflege.
    Seit Mitte der Neunzigerjahre beschäftigt mich die Problematik der Kriegskinder. Dass ich als Journalistin über so viele Jahre von einem Thema gefesselt war, hatte ich vorher noch nicht erlebt. Ausschlaggebend für das, was später mein Lebensthema werden sollte, war ein Krieg, der Deutschland geografisch sehr nahe rückte. Anfangs sprach man noch gar nicht von einem Krieg, sondern von einem Konflikt – dem Bosnienkonflikt. Weil im Fernsehen dem Leid der Kinder viel Sendezeit gewidmet wurde, wuchsen in mir Fragen: Wie geht es eigentlich den deutschen Kriegskindern heute? Wie haben sie ihre frühen Erfahrungen mit Gewalt, Bomben, Flucht, Hunger und Tod in der Familie verkraftet? In welchem Ausmaß blieb das spätere Leben davon geprägt?
    Das Verblüffende war, dass sich außer mir kaum jemand dafür zu interessieren schien. Weder die Kriegskinder selbst noch Ärzte, Psychotherapeuten, Seelsorger, Redakteure. In Deutschland, sokam es mir vor, hatte man sich stillschweigend darauf geeinigt, dass die Kinder des Krieges gut davongekommen waren.
    Im Archiv des WDR fand ich dazu keine Fakten, keine Zahlen, keine nennenswerten Untersuchungen. Also fragte ich die Betroffenen selbst. Tatsächlich nutzte ich dazu jede Gelegenheit, auch zufällige Begegnungen, in der Bahn zum Beispiel. Gelegentlich kam es zu heftigen Reaktionen wie: »Sie wollen mir wohl ein Trauma anhängen!« Ich verstand, dass ich meinem Gegenüber manchmal zu nahe getreten war.
    Die meisten Angesprochenen wollten nur über die NS-Vergangenheit und den Holocaust reden – darüber, wie sehr sie das heute noch belaste und wie sie als Pfarrer, als Lehrerin, als Eltern die Erinnerung daran wachgehalten und an die Jüngeren weitergegeben hätten. Wenn ich sie dann erneut auf mein Thema ansprach, wurden einige ärgerlich und unterstellten mir, ich wollte »die Deutschen« als Opfer stilisieren.
    Fazit meiner Gespräche im ersten Jahr: An Kriegs erinnerungen war noch heranzukommen, aber die Frage nach den Kriegs folgen wurde so gut wie nie beantwortet. Am häufigsten hörte ich Sätze wie: »Andere haben es schlimmer gehabt« oder »Es hat uns nicht geschadet« oder »Das war für uns normal.« Finale Sätze. Ende des Gesprächs. Es ging mir nicht besonders gut in diesem Jahr. Mich haben die Begegnungen häufig verwirrt, ich geriet in einen inneren Zwiespalt. Einerseits sagte ich mir, dass die Deutschen ja wohl kaum so viel für Kinder in Kriegsgebieten spenden würden, wenn sie nicht um deren Traumatisierungen wüssten. Andererseits: Sie waren sich so einig, diese Kriegskinder, und ich hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas vorgemacht wurde.
    Nur gelegentlich kam es zu längeren Gesprächen, und rückblickend kann ich meine Erfahrungen der ersten Jahre mit dem Satz zusammenfassen: Je mehr Menschen ich fragte, desto unklarer wurde das Bild. Nach meinen Interviews war ich oft ratlos, ich zweifelte an meiner Wahrnehmung und war körperlich sehr erschöpft. Wenn ich mit Freunden darüber sprach, hörte ich: »Was beschäftigst du dich auch mit so einem dunklen Thema?«
    Aber daran allein konnte es nicht liegen. Ich habe Erfahrung mit unbequemen Fragestellungen – Nazizeit, Holocaust, psychische Erkrankungen, Kindstod –, aber eine vergleichbar niederdrückende Stimmung und Konfusion hatte ich noch nie erlebt. Die Verwirrung ging schon damit los, dass es eine ganze Weile dauerte, bis ich begriff, dass es sich bei den Jahrgängen von 1930 bis 1945 in Wahrheit um mehrere Generationen handelt. Denn es macht einen großen Unterschied, in welchem Alter ein Kind diesem Krieg ausgeliefert war: ob als Säugling, als Kleinkind, ob vor oder nach der Pubertät.
    Natürlich hätte ich auch eine andere Zeitspanne wählen können, zum Beispiel von 1928 bis 1950, aber ich entschied mich, vor allem um die Arbeit überschaubar zu halten, für jene 15 Jahrgänge, von der Flakhelfergeneration bis zu jenen Kindern, die auf der Flucht geboren wurden.
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