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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Autoren: Sabine Bode
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dieser Zustand des Ausblendens der Wirklichkeit würde sich verfestigen, sodass auch der spätere Erwachsene Schwierigkeiten hätte, das Hier und Jetzt angemessen wahrzunehmen und einzuordnen.
    Dieses Ausblenden der Gegebenheiten und einer angemessenen Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist, dürfte ein kollektives Problem des deutschen Volkes gewesen sein und sein. Margarete und Alexander Mitscherlich nannten es die »Unfähigkeit zu trauern«. Trauernkönnen setzt voraus, dass man stark genug ist, den Tatsachen des Lebens ins Auge zu schauen. Traumatisierungensetzen diese Fähigkeit herab oder ganz außer Kraft.
    Zur Traumaforschung gehört ergänzend die Resilienzforschung, also die Beschäftigung mit seelischer Widerstandskraft und den Fähigkeiten, mit Schrecken fertigzuwerden. Es darf bezweifelt werden, dass das deutsche Volk über hohe Resilienz verfügte, was deren Vorkommen bei Einzelnen nicht ausschließt. So verwundert es nicht, dass die Verarbeitung des Terrorregimes und des totalen Krieges überwiegend im Sinne eines kompensatorischen Schemas und nicht einer Auseinandersetzung geschah.
    Die Erkenntnisse der Traumaforschung sollte man auch auf deutsche Kriegskinder anwenden. Was müssen wir als Psychotherapeuten berücksichtigen? Zunächst müssen wir einmal klären, ob wir unsere eigene Geschichte ausreichend aufgearbeitet haben. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass dies nicht der Fall ist, selbst wenn wir gute Lehranalytiker hatten.
    Und dann sollten wir als Psychotherapeuten gegenüber den Patienten eine offen fragende Haltung einnehmen in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg, wenn der Ratsuchende zwischen 1935 und 1945 geboren wurde. Es sind eigentlich ganz einfache Fragen: Wo wurden Sie geboren? Wo war Ihr Vater, wo Ihre Mutter in dieser Zeit? Gab es dort, wo Sie geboren wurden, Bombenangriffe? Wo haben Sie nach dem Krieg gelebt? Dies sind nur einige der zentralen Fragen.
    Später wird sich das vertiefen. Wichtig ist erst einmal, die Aufmerksamkeit auch und gerade auf diese Zeit zu lenken. Übrigens wissen einige Patienten darüber – bewusst – nichts, weil ja nie darüber gesprochen wurde.
    Wichtig ist mir, dass wir offen sind für die individuellen Sichtweisen und Lösungen. So erzählte mir eine Freundin, ihr sei bewusst geworden, dass sie eine seltsame Reaktion zeige. Sie verteidige immer die Bahn, wenn alle auf sie schimpfen. Sie habe angefangen, sich zu erinnern, wie gut es war, wenn man damals auf der Flucht endlich im Zug war, auch wenn es eng war, aber dann kehrten Sicherheit, Ruhe, Entspannung ein. Sie ärgere sichnie, wenn die Bahn sich verspäte. Aber sie habe immer noch Angst auf dem Bahnsteig.
    Wir müssen die gängigen Konzepte über Konfliktverarbeitung ergänzen durch die Erkenntnisse über existenzielle Konflikte, wie sie der Psychoanalytiker Peter Kutter bezeichnet, aber auch über Trauma und die Folgen von traumatischem Stress. Wir müssen mehr und mehr verstehen lernen, dass der Körper sich ganz unmittelbar erinnert und dies durch Schmerz ausdrückt. Wenn man den Schmerz des Körpers versteht und übersetzt, kann er aufhören, wehzutun. Eine Sechzigjährige klagt ständig über kalte Füße. Die Kälte erstreckt sich bis zur Mitte der Waden. Nichts hilft, bis sie sich erinnert, dass sie als Kind auf der Flucht bis zur Mitte der Waden in kaltem Wasser stand, in dem Boot nämlich, mit dem sie flohen. Als das erkannt und durchgearbeitet war, konnte sie ihre Füße und Unterschenkel langsam zurückgewinnen. Diese waren nämlich sozusagen im Eiswasser geblieben.
    Traumatische Erfahrungen sollten imaginativ zu einem »guten Ende« gebracht werden. Damit meine ich, dass wir dem Kind in uns mitfühlend begegnen. Wir sollten ihm sagen, dass es recht hat mit seinem Schmerz, mit seiner Angst, mit seiner Verzweiflung.
    Da für mich die Musik der größte Trost ist, ein Vergleich: Vielleicht ist es, als würde man ein Thema variieren und versuchen, wie die Melodie in Dur klingt, auch wenn die Moll-Tonart des Themas bleibt.
    Psychotherapeuten, die auch früher schon bereit waren, Kriegstraumatisierungen zur Kenntnis zu nehmen, haben immer erfahren, dass es Zusammenhänge zwischen Erkrankungen und Leidenszuständen ihrer Patienten mit den durch den Krieg erlittenen Traumata gab. Sie erkannten auch, dass es für ein kleines Kind keine Rolle spielt, wer schuld am Krieg ist, sondern es leidet einfach darunter, dass der Vater nicht da ist und die Mutter in Angst und Panik, dass es hungert
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