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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Autoren: Sabine Bode
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Leserin aus Griechenland. Sie schrieb, eine Touristin habe ihr mein Buch dagelassen, das sie daraufhin wieder und wieder gelesen habe. Und nun verfüge sie zum ersten Mal über Worte für das, was ihr in derKindheit widerfuhr. Das wolle sie mir schreiben. Hier ist ihr Bericht.
    Drei gesunde glückliche Kinder waren wir – geboren 1934, 1938 und ich die Jüngste 1939 – in Oberschlesien, bevor wir uns im so kalten Januar 1945 auf die Flucht begaben. Der Vater, kurz zuvor noch eben »eingezogen«, wir haben ihn nicht wiedergesehen – ich kenne ihn nicht. Es ging eine Weile ganz gut, man funktionierte, natürlich gehorchte man der noch so jungen hilfsbedürftigen Mutter, Witwe und ohne Bezüge. In der Schule hatten wir immer die besten Noten, waren immer sauber und ordentlich, bis dann spätestens um die Pubertät herum entweder alles zusammenbrach oder sich extreme Auswirkungen zeigten, um die sich niemand gekümmert hat, kümmern konnte. Mein Bruder war Stotterer, meine Schwester biss sich die Fingernägel ab, bis fast nichts mehr vom Nagel zu sehen war, ich war Bettnässer, voller Angstträume, Schlafstörungen und Depressionen.
    Aber man funktioniert weiter, das musste man, das gehörte sich so, um nur ja der Mutter keine Sorgen zu machen. Dann liefen die ganzen Fragen um unsere Berufswahlen schief – und für mich begannen – über einen Zeitraum von 23 Jahren – insgesamt fünf Psychiatrieaufenthalte mit schweren Depressionen. Die lange Ausbildung (stets als Jahrgangsbeste) blieb unabgeschlossen, und berufslos habe ich dann unter der Diagnose vegetative Dystonie mit Librium und Adumbran meine jüngeren Jahre verbracht. Ich hielt mich mit unterschiedlichen Jobs über Wasser – immer mit der Sehnsucht nach dem Alter, in dem ich glaubte, besser leben zu können.
    So war es dann auch, dank einer winzigen Frührente, seit ich 49 Jahre alt bin, und dem kleinen Erbe aus dem Lastenausgleich konnte ich mir hier in Griechenland ein letztes, geliebtes Zuhause schaffen. Ich lebe – wohl mit Depressionen – aber doch wie in einem Paradies, das ichimmer noch wie ein großes Wunder täglich dankbar erfahre, auch wenn ich sehr allein bin, denn der Rest der Familie ist auseinandergebrochen (auch das eine Kriegsfolge). Beide Geschwister sind geschieden – ich hab’s ja gar nicht erst probiert. Nun verbleiben noch ein paar wenige Jahre mit großem Garten, mit Hühnern und einem Esel, mit Töpferstübchen zwischen den Blumen, mit dem Meer und einer grandiosen Landschaft.
    Barbara W., heute 71 Jahre alt, vaterlos, kinderlos
    Die Familienbeziehungen von Barbara W. waren durch die Spätfolgen von Krieg und NS-Zeit beeinträchtigt. Häufig hörte ich auch Besucherinnen meiner Veranstaltungen sagen, der Kontakt unter den alt gewordenen Geschwistern sei dünn oder äußerst problematisch. Viele Schwestern oder Brüder lehnten das Thema Krieg kategorisch ab, ja sie würden ärgerlich, wenn in ihrer Gegenwart darüber gesprochen werde. Also, hieß es weiter, reiße man sich auf Familientreffen zusammen, aber die unterschwelligen Konflikte schafften keine gute Atmosphäre.
Reise zum Mittelpunkt der Angst
    Doch ich erfuhr auch von Ausnahmen. Eine Frau mit Vertreibungsschicksal erzählte, seit die zwei ältesten Geschwister tot seien, würden sich die vier jüngeren Schwestern einmal im Jahr zu einer mehrtägigen Reise treffen, jeweils an einem anderen Ort. Dabei handele es sich um wichtige Stationen unmittelbar nach ihrer Flucht und während der ersten Nachkriegsjahre in Westdeutschland. »An diesen Orten«, berichtete die Frau, »erzählt jede von uns Schwestern, wie sie die Zeit dort empfunden hatte. Und heraus kommen völlig unterschiedliche Wahrnehmungen und Erinnerungen. Solche Reisen schaffen eine ganz besondere Verbindung zwischen uns Schwestern.« Diesen Frauen geht es nicht darum, wessen Erinnerung »die richtige« ist, sondern um dieErkenntnis: Jede der Schwestern verbindet ihre eigene Geschichte mit diesem Ort. Was für die eine »die einsamsten Jahre« gewesen sein mögen, kann eine andere durchaus als glückliche Zeit empfunden haben, weil sie hier die Freundin fürs Leben fand.
    Neben solchen – privaten – Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit der Kriegsvergangenheit hat sich auch der öffentliche Diskurs weiterentwickelt. Dabei ist nicht nur das Leid der Kriegskinder in den vergangenen Jahren zum Thema geworden, sondern auch das der vergewaltigten Frauen. Wie vehement die Nachwirkung einer 65 Jahre
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