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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Autoren: Sabine Bode
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sichtlichgeschwächt – jenes Unbehagen, das sich unwillkürlich beim Auftauchen nationaler Gefühle und nationaler Symbole einstellte. Im Fußballsommer war davon nichts mehr zu spüren – und niemand zeigte sich überraschter als die Deutschen selbst.
    Von Reflexen weiß man: Sie sind tief verwurzelt. Mit Willenskraft lassen sie sich nicht verhindern. Allenfalls kann man mit Vernunft gegensteuern, damit einem heftigen Impuls keine Handlung folgt. Der Deutschland-Reflex war für viele junge Menschen schwer zu ertragen – nicht weil sie Nationalisten gewesen wären, sondern weil sie spürten: Es gab dazu kein wirklich offenes Gespräch in ihren Familien. Sie erfuhren nur Andeutungen über die deutsche Vergangenheit, und dies produzierte Verwirrung und ein erneutes Schweigen. Letztlich hatte es zur Folge, dass viele junge Menschen sich nicht für die Geschichte ihrer Familie interessieren.
    Heute stelle ich mir die Frage, wie sich die neue Unverkrampftheit im gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema »deutsche Schuld« auswirken wird. Werden die Deutschen vergesslicher oder sogar noch verantwortungsbewusster werden?
    Bislang waren vor dem Hintergrund des Wissens um die NS--Vergangenheit die Sensoren für den Erhalt unseres Rechtsstaats gut entwickelt. Das verdanken wir vor allem der Generation der Kriegskinder. Sie haben in der alten Bundesrepublik dafür gesorgt, dass das Wissen über den Nationalsozialismus und seine Massenverbrechen in den Schulen und Hochschulen und in den Medien verankert wurde. Die verantwortungsvolle Aufarbeitung der jüngsten Geschichte, die das Ansehen von Deutschland enorm gesteigert hat, ist ihr Verdienst.
»Kriegskinder für den Frieden«
    Ältere Menschen treten zunehmend in der Öffentlichkeit auf, oder sie lassen sich als Zeitzeugen in Schulen einladen. Wenn Schülerinnen und Schüler anfangen zu begreifen, dass es nichtnur Schuld, sondern auch Leid gegeben hat, werden sie ihr Land, aber auch ihre Großeltern besser verstehen. Und nicht nur nach Bombenangriffen sollten die Schüler fragen, nach Vertreibung und Hunger, sondern auch nach den Erfahrungen in einer Diktatur bzw. in zwei Diktaturen. Einen besseren Schutz für unsere Demokratie gibt es nicht.
    Als Zeitzeugen sind die Kriegskinder von unschätzbarem Wert. Das interessanteste Projekt scheint mir derzeit ein zentrales deutsches Kriegskinder-Archiv für die Forschung zu sein. Initiator ist der Förderverein »Kriegskinder für den Frieden«. Der von ehemaligen Kriegskindern gegründete gemeinnützige Verein setzt sich für die wissenschaftliche Friedensarbeit ein. Eine Videothek soll entstehen, ein repräsentatives Archiv mit Zeitzeugen-Interviews. Im Januar 2010 wurde damit in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte der Universität Hamburg begonnen. 800 bis 1000 Interviews sind erforderlich, damit das Archiv interdisziplinär und international genutzt werden kann.
    Jedes Interview kostet einschließlich seiner wissenschaftlichen Aufbereitung und Archivierung 2000 Euro. Der Verein »Kriegskinder für den Frieden« sowie die an diesem Großprojekt beteiligten Wissenschaftler hoffen nun auf die finanzielle Unterstützung aus den Reihen der deutschen Kriegskinder. Daher der Aufruf: »Spenden Sie mit 2000 Euro Ihr eigenes Kriegskind-Interview!« Aber auch Angehörige können einen Beitrag zur Friedensarbeit leisten. Wie oft wird vor dem runden Geburtstag eines älteren Menschen gefragt: Was sollen wir ihr oder ihm nur schenken? Da lohnt es sich über ein Kriegskind-Interview als Gemeinschaftsgeschenk nachzudenken. Kommt es zustande, gibt es natürlich auch eine Video-Kopie für das Familienarchiv.
    Die Kriegskinder können selbst viel dazu beitragen, dass das Interesse am Schicksal der »vergessenen Generation« nicht mehr erlischt und die Wege zum Frieden geebnet werden.

NACHWORT (2004)
    von Luise Reddemann
    Vor einigen Jahren hielt ich einen Vortrag über Traumatherapie in Philadelphia. Die dortigen Kollegen fragten mich, warum ich Traumatherapeutin geworden sei, wegen meiner individuellen oder wegen der kollektiven Geschichte? Würde man mir hier in Deutschland eine solche Frage stellen? Ich denke eher nicht.
    Wegen der kollektiven Geschichte, was heißt das überhaupt? Darf ich – selbst ein Kriegskind – wahrnehmen, dass es für die Kinder einen entscheidenden Aspekt gibt, der überhaupt nichts damit zu tun hat, dass es Hitler gab, dass die Deutschen den Krieg angefangen haben, sondern mit Verlassenwerden, mit Verlust der
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