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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Autoren: Sabine Bode
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Gedanke mit Fragezeichen, von Gewissheit kann keine Rede sein. Manchmal glaubt sie, die Wahrheit zu kennen, dann kommen wieder die Zweifel . . . Warum sollte ausgerechnet sie, die ein so miserables Gedächtnis hat, sich selbst in dieser Frage trauen? Gudrun Baumann weiß: Was sie als Kind erlebte, war aus heutiger Sicht das pure Grauen, aber viele Hunderttausend Kinder haben damals Ähnliches erlebt, ohne dass in Deutschland eine große Gruppe der Vergesslichen aufgefallen wäre.
    Dann erzählt sie von einem zentralen Erlebnis, als sie vier Jahre alt war. »Da lag ich abends im Bett. Es war nach einem Angriff, die Stadt brannte lichterloh, und die gegenüberliegenden Häuser brannten auch und krachten mit viel Lärm zusammen. Ich sehe noch das Feuer, das loderte und sich veränderte, und ich erinneremich an die entsetzliche Angst und dass ich in meiner Angst meine Mutter rief. Sie kam herein und setzte sich zu meiner ungeheuren Beruhigung einen Augenblick ans Bett und sagte mir: Dreh dich um zur Wand, dann siehst du nichts, und mach die Augen fest zu! Und ich hoffte, sie würde dableiben, aber sie ging wieder. Und als sie ging, sagte sie: Du hast nichts gesehen . . .«
    Ihre Heimatstadt wurde, da sie Kriegshafen war, besonders heftig und anhaltend bombardiert. In ihrer Erinnerung gibt es dazu so gut wie keine Bilder. Sie weiß, dass andere Menschen ihres Alters sehr detailliert schildern können, was sie im Krieg gesehen haben, aber über ihre damaligen Empfindungen wissen sie oft wenig. Bei ihr selbst ist es umgekehrt. Bei ihr sind eher die Gefühle haften geblieben. »Ich weiß, da waren Dinge, die haben mich erstarren lassen und mir die Sprache genommen, aber ich weiß nicht mehr, was es war.«
»Wir haben jahrelang im Keller gesessen«
    Klagen liegt Gudrun Baumann fern. Sie spricht nüchtern über das, was geschehen ist. »Man muss es eben so sehen, wie es war: Wir haben jahrelang im Keller gesessen. Dort durfte man nur sitzen, an Schlafen war nicht zu denken. Also waren wir morgens übernächtigt.«
    Wenn auf dem Schulweg Alarm kam, wusste sie genau, was zu tun war. Aber man musste sich beeilen, sonst waren die Bunkertüren schon verschlossen, und man konnte nicht mehr hinein. Auch Gudrun war das passiert: »Da kamen schon die Flieger, und ich war allein auf der Straße. Da habe ich mich der Länge nach hingeworfen. Ringsherum gingen die Bomben runter. Erzählt habe ich das danach keinem. Und was auch zu diesen Jahren gehört – meine Mutter forderte mich ständig auf: ›Nun sei doch mal richtig fröhlich . . .‹«
    Ihre Eltern wünschten sich ein offenes, munter plauderndes Kind, vor allem dann, wenn Gäste kamen. Stattdessen verkrochsie sich, sobald der Besuch im Hause war, verzweifelt, weil sie wusste, dass sie hinterher zur Rede und »in die Ecke« gestellt würde, wo sie »sich schämen« und »sich besinnen« sollte. Ihre Eltern empfanden es gegenüber anderen Leuten als peinlich, einen solchen »Holzbock« als Kind zu haben . . .
    Heute weiß Gudrun Baumann, dass das Nichthinsehen, das ihr offenbar während des Luftkriegs antrainiert worden war, zu einem Charakterzug wurde, gegen den sie dann ihr Leben lang ankämpfte. »Das ist mir schon sehr früh bewusst geworden, und ich habe mich immer gefragt, warum ich so reagiere – warum ich so mühelos über Dinge hinwegsehe . . .«
    Als sie begann, sich mit ihrer Kindheit zu beschäftigen, hatte sie einen wiederkehrenden Traum. Darin wurde ihr gesagt: Du brauchst eine bessere Brille, eine große Brille. Gudrun Baumann schloss daraus, dass sie endlich lernen sollte, richtig hinzusehen. Heute glaubt sie, dass dies auch der Weg zu einem besseren Gedächtnis ist.
    »Ich hätte sicherlich andere Dinge in meinem Leben gemacht, wenn ich mich auf mein Gedächtnis hätte verlassen können«, sagt sie. Ihre Stimme klingt nachdenklich. »Als ich jung war, habe ich gedacht, ich muss mehr lernen, ich weiß nicht genug. Sehr spät ist mir erst klar geworden, ich lebe eigentlich mit einer Behinderung.«
    Es war eine Behinderung, die vor allem in ihrem Privatleben permanent zu Schwierigkeiten führte. Wichtige Beziehungen sind daran zerbrochen. Es fiel anderen Menschen äußerst schwer, ihr zu glauben, dass sie wirklich so vergesslich war. Aber nun, da ringsum bei ihren Altersgenossen das Gedächtnis nachlässt und sie merken, dass ihnen Namen und Ereignisse entschwinden, ist es bei Gudrun Baumann eher umgekehrt. In dem Maße, wie sie sich ihre Kindheit wieder aneignet,
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