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Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen

Titel: Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
Autoren: Sabine Bode
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Weltkriegs sichtbar, wohl deshalb, weil kaum noch ältere am Leben sind. Im Zusammenhang mit den Kindern von einer Gruppe zu reden – oder gar von einer Gruppenidentität – ist noch zu früh. Es sind nur Einzelne, die sich vorwagen, die sich Fragen stellen und nach Antworten suchen. Die Hamburger Rentnerin Ruth Beate Nilsson ist schon einen Schritt weitergegangen, indem sie ihre Innenwelt veröffentlichte. Sie schreibt Gedichte, um sich selbst näherzukommen und um sich mit Menschen ihrer Generation zu verbinden, was ihr bislang nur selten gelang. Sie dichtet in dem Bewusstsein, dass sie ein Kriegskind ist.
    Der freie Fall
    Ich will nicht auffallen
    Am besten gar nicht fallen
    Im freien Fall weiß man nicht, wo man landet.
    Mir ist so vieles abhanden gekommen – entfallen.
    Das Suchen bringt gar nichts zurück
    Ich brauche Gewißheit
    Gewiß doch
    Dass es über eine Welt, die sechzig Jahre lang verschwiegen wurde, überhaupt je so etwas wie Gewissheit geben kann, ist unwahrscheinlich. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns nur im Nebel der Spekulationen bewegen müssen. Wir können Fragen stellen, und wir können Antworten hören, und zwar von den Kriegskindern selbst. Solange ihr Schicksal nicht umfassend erforscht ist, sind sie – mit Ausnahme einiger weniger Psychotherapeuten und Publizisten – die einzigen Kapazitäten, auf die wir zugehen können.
    Eine unserer Expertinnen ist Gudrun Baumann*. Sie wurde1937 geboren und arbeitete bis zu ihrem Ruhestand als Ballettlehrerin. Noch immer trägt sie ihr Haar streng und klassisch mit Nackenknoten. Mehrere Generationen hat sie von Kindesbeinen an unterrichtet, aus einigen Elevinnen sind richtig gute Berufstänzerinnen geworden. Noch heute kommen Ansichtskarten aus aller Welt, von ehemaligen Schülerinnen, die sich auf Tournee dankbar ihrer ersten Lehrerin erinnern.
    Seit Gudrun Baumann – geschieden, zwei Kinder – nicht mehr arbeitet, hat sie ein paar Kilo zugenommen, besonders an Hüften und Gesäß, und es fällt ihr schwer, sich daran zu gewöhnen. Auch ihr Gesicht hat sich verändert, es ist weicher geworden. Aber das scheint eher ein Vorteil zu sein, denn die Menschen in ihrer Umgebung versichern ihr gelegentlich, es stehe ihr gut und überhaupt sei ihre ganze Persönlichkeit weicher und lebendiger geworden.
    Schon möglich, sagt Gudrun Baumann, sie habe sich in den vergangenen Jahren innerlich verändert. Das sei nicht ausgeblieben, seit sie angefangen habe, ihre eigene Kindheit zu rekonstruieren. Eigentümlicherweise, fügt sie hinzu, seien ihr die Kriegserinnerungen so fern, als stammten sie aus einem völlig anderen Leben.
Wo sind die Erinnerungen?
    Viele Gespräche hat sie auf der Suche nach ihrer Kindheit mit Freundinnen und Bekannten von früher geführt. Viele Tassen Tee mit Kandis sind dabei getrunken worden. Gemeinsam haben sie ihre Erinnerungen auf den Tisch gelegt, und jedesmal stellte sich heraus, dass Gudruns Beitrag ausgesprochen mager ausfiel.
    »Mir ist aufgefallen, dass ich gerade die Kriegserlebnisse, die ich fast täglich hatte, weitgehend im Einzelnen vergessen habe«, erzählt sie. »Es geht dabei um gravierende Ereignisse, von denen andere immer wieder reden, und ich habe mich gefragt: Warum eigentlich weiß ich das nicht? Dazu kommt, dass ich mich schonsehr viel länger frage, warum ich ein so merkwürdig schlechtes Gedächtnis habe.«
    An dieser Stelle des Interviews kommt sie meinem naheliegenden Einwand zuvor und versichert lebhaft: »Nein, nein, es hängt überhaupt nicht mit dem Alter zusammen, im Gegenteil, es ist jetzt eher besser geworden. Aber ich verliere bestimmte Dinge aus dem Gedächtnis, visuelle Dinge, andere Dinge, an denen ich interessiert und enthusiastisch gearbeitet habe – und eine Woche später können sie wieder weg sein. Auch schöne Dinge. Das hängt nicht davon ab, ob es angenehm oder unangenehm war . . .«
    Da gab es die Situation, als sie zu ihrem erwachsenen Sohn nach einem Weihnachtsgottesdienst sagte: »Was mich wirklich verblüfft hat, ist, dass du alle Lieder mitsingen konntest. Jede, aber auch jede Strophe kanntest du. Ich hätte nicht gedacht, dass sie euch so was in der Schule beigebracht haben.« – »Aber Mutter! Die Lieder hast du doch selbst immer mit uns gesungen. Alle Jahre wieder.«
    Irgendwann kam Gudrun Baumann ein Gedanke: Könnte ihr schlechtes Gedächtnis damit zusammenhängen, dass sie als Kind von ihrer Mutter so oft aufgefordert worden war, zu vergessen? Noch heute ist es ein
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