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Die Vergangenheit des Regens

Titel: Die Vergangenheit des Regens
Autoren: Tobias O. Meißner
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geradezu aberwitzig roter Farbe, das bei einem Mädchen namens Ikli Oyberg lebte. »Wir haben es Naenn getauft, weil es schwanger war«, erläuterte Bestar. Und Tjarka fügte hinzu: »Es stammt aus der anderen Welt, der Welt mit dem himmelhohen roten Schloss und dem roten Schnee.«
    Das Kaninchen namens Naenn hatte inzwischen geworfen; zehn winzige rote Bällchen mit dunklen Knopfaugen und angelegten Ohren hoppelten umher und schnupperten an Rodraegs streichelnden Fingern. »Kann sein, dass sie schon wieder trächtig ist, von meinem Korengan«, sagte Ikli stolz und deutete auf ihr schwarzes Männchen. »Bei Kaninchen geht das ziemlich schnell. Alle zwei Monde. Aber diese roten sind natürlich der Knüller! Keiner hat solche wie ich jetzt!«
    Bestar hatte Tränen in den Augen, als er die zehn kleinen Roten sich so quicklebendig tummeln sah. »Es wird im Thost wieder Kaninchen geben, Rodraeg«, sagte er. »Die sind der Anfang.«
    Rodraeg begriff. Noch bevor Delphior ihm aufgetragen hatte, zwei Welten zueinanderzuführen, hatten Bestar, Tjarka und Eljazokad in Anfest bereits damit angefangen. Ohne großes Trara. Ohne Urwald, Bergesgipfel und Donnerhall. Mit Kaninchen fing hier alles an, wie dort im Regenwald mit den Ameisen. Der Kontinent wandelte sich. Und diese Wandlung begann im Kleinen und Unbeträchtlichen.

    Sie übernachteten nicht in Anfest, sondern begaben sich gleich auf Eljazokads Fährte. Wo man Taulle und Yawak gefunden hatte, war ihnen von Dörflern beschrieben worden; dorthin wandten sie sich zuerst, ohne Tjarkas besonderes Talent in Anspruch zu nehmen.
    Dann, als sie am folgenden Tag die Stätte des Tötens erreicht hatten, brauchten sie Tjarka. Sie folgte – so beschrieb sie es – einer Fährte, die zwar schon zwei Monde alt war, aber immer noch zu spüren, als hätte jemand mit Flammenfüßen den Waldboden versengt. Die Fährte des Mörders Raukar und seines rätselhaften Kumpanen, des ehemaligen Bienenmagiers.
    Dann jedoch begann Tjarka sich zu verzetteln. Die Fährte wurde uneindeutig, vielleicht aufgrund ihres Alters, vielleicht, weil sie mehrmals gekreuzt worden war, vielleicht auch, weil Raukar ein Heimlichgeher und der Bienenmann gar nicht richtig vorhanden war. Tjarka war verwirrt und uneinsichtig. »Das gibt es doch gar nicht«, murmelte sie immer wieder. »Die Fährte ist da, aber auch nicht. Sie führt in die Richtungen, in die sie nicht führt, und in die, in die sie führt, führt sie nicht.« Irgendwann begriff sie, dass sie ihrer eigenen Spur folgte, zurück in Richtung Anfest. Sie gab es auf.
    Rodraeg jedoch verfügte über noch einen Anhaltspunkt: »Delphior sagte mir, sie hätten Eljazokad in einen Brunnenschacht geworfen.«
    Â»Warum erzählst du das denn nicht gleich?«, herrschte Tjarka ihn an.
    Rodraeg machte ein verdutztes Gesicht. »Weil ich annahm … es würde Hunderte von Brunnen im Thostwald geben …?«
    Â»Ach, Unsinn. Niemand hebt hier Brunnen aus. Die Leute holen sich ihr Wasser aus Bächen und Quellen. Es gibt nur zehn Brunnen hier, und die sind alle am selben Ort: Der Niemalsbrunnen und seine neun blinden Nachfahren!«
    Rodraeg erschrak. Der Niemalsbrunnen , von dem Delphior gesprochen hatte. Alles hing miteinander zusammen.
    Sie eilten weiter, einen Tag und eine Nacht. Sie froren, weil sie nach den Temperaturen im Regenwald nicht mehr an die Kälte des übrigen Kontinents gewöhnt waren. Rodraeg kämpfte gegen ein leichtes Fieber an, aber er sagte sich, in diesem Jahr hätte er schon genug gehustet, es sei kein Platz mehr für weitere Gebrechlichkeiten.
    Sie erreichten das Gebiet der blinden Brunnen an einem nebelig-diesigen Nachmittag.
    Im dritten der Schächte, in die sie herzklopfend schauten, sahen sie einen kaum noch zu erkennenden Leichnam in Eljazokads Kleidung liegen. Dem Toten fehlte die rechte Hand. Sein Gesicht war ein knochiger Brei aus Einsamkeit und Zerfall. Auf fürchterliche Art und Weise erinnerte Eljazokad an den Leichnam des Schatzfinders am Grund des Umsilikakopfes.
    Bestar prügelte auf den Boden ein, als wäre das Erdreich für alles verantwortlich. Tjarkas Lippen bebten. Mit trockenen, heißen Augen starrte sie umher in den Wald, der einst ihr Alles gewesen war und der sich dann in einen Hort der Schrecklichkeiten verwandelt hatte. Rodraeg fühlte Schmerzen einer ganz neuen Art. So als
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