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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift
Autoren: Anselma Heine
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»genau so. Im Traum.« Aber sie irrte sich. Es war kein Traumerlebnis, was sich wiederholte; in ihrer Erinnerung wurden, ohne daß sie es wußte, ihres Vaters Worte lebendig, die er im Juli 1870 seinem Schwager Blanc entgegenrief: »Man hat nicht gewußt, daß man ein gut Stück Wildheit in seinem Blute mit sich herumträgt.«
    »Was wird mit der Rede?« fragte Monsieur Henri, im Begriff zu gehen. »Wollen Sie sie halten?«
    Martin bejahte. Er erklärte seinen Eltern, um was es sich handelte, und machte sich denn auf den Weg, bei Monsieur Henri das Konzept der Rede abzuholen. Es wurde beschlossen, Pierre und Françoise sollten vorausgehen zu Hummel, Martin dann mit der Deputation nachkommen, die schon für heute abend angekündigt war. Man konnte, der Zeitlage wegen, den Geburtstag nicht abwarten.
    Als Martin verschwunden war, sahen die beiden Füeßli sich an. Aber keiner von ihnen wagte es, seine Gedanken auszusprechen.
    Auf der Straße nahm Françoise ihres Mannes Arm. Und so schritt sie dahin, zwischen verhüllter Zukunft und verblaßter Vergangenheit. Wie mit verbundenen Augen geführt. – –
    Ganz still war's im Villenviertel. Die Straßen hatten alle ihre Menschen in die Stadt hineingeschickt und lagen nun matt wie blutlose Arme eines Kranken, dem das Herz übermäßig klopft. Françoise trug einen mächtigen Feldblumenstrauß. Sie hatte alle Blumengeschäfte Straßburgs durchsucht nach den hohen weißen Sternblumen, wie sie auf den Wiesen von Thurweiler wachsen. Über diesem Suchen war es schon fast Abend geworden, sie mußten sich beeilen, wollten sie noch vor den Studenten in der Goethe-Straße sein.
    Nun sie jetzt da einbogen, hörten sie eine aufgeregte Knabenstimme überlaut, fast brüllend mit vielen falschen hohen Tönen patriotische Lieder singen. »Lieb Vaterland« und »Ich hatt' einen Kameraden«.
    Jetzt sahen sie ihn, einen kleinen Dreikäsehoch mit Papierhelm auf dem Kopf, einen Stock geschultert, in wütender Begeisterung hin und her marschierend. Neben Hummels Villa lief er Schildwacht. Als er die Fremden sah, die ihn betrachteten, salutierte er ernsthaft. Françoise redete ihn an: »Nun, kleiner Soldat?« Er nannte unaufgefordert seinen Namen. »Otto von Reitzenstein. Papa geht in den Krieg. Papa ist Hauptmann. Wir wohnen hier.«
    Und dann begann er wieder, heiser schon: »Daß er unsre alte Kraft erprobt, wenn der Schlachtruf uns entgegentobt.« Dann ging er über in das Weihnachtslied: »Morgen, Kinder, wird's was geben.« Alles Feierliche floß dem Kinde wohl zu Einem zusammen in dieser Stunde.
    Im Salon, in dem sie einen Augenblick warten mußten, lagen allerlei halb ausgewickelte Geschenke umher: Kunstwerke, Medaillen. Pierre las die Siegel von mehreren ausländischen Ehrenschreiben und -Verleihungen. Ein bronzener Äskulap blickte kritisch auf das Umhergestreute. Und wirklich schien in diesem achtlosen Nebeneinander etwas Klägliches zu liegen. So als habe ein Zufallswind allerhand Flüchte vonden Bäumen gebrochen und hierher geweht, sie ihres Lebens, ihres Sinns beraubt und zu Gerümpel gemacht.
    Jetzt ging die Tür vom Nebenzimmer, und Hummel trat ein. Als lägen nicht Jahrzehnte zwischen Abschied und Wiedersehen, ging er, ohne ein Wort zu sprechen, auf die beiden zu und drückte ihnen die Hand. Sein Gesicht war ernst. Wundervoll glänzte sein schneeweißer Bart und sein dichtes weißes Haar.
    »Nun erleben wir auch dieses wieder zusammen,« sagte er. »Wieder im Juli!« Und zu Füeßli sagte er: »Wir dürfen nicht alt sein heute, nicht wahr?«
    Françoise gab ihm ihren Strauß. »Blumen, wie sie in Thurweiler wachsen.« Er nahm sie, lächelte darauf hin, hielt sie hilflos in der Hand und war froh, als Pierre sie in eine der Vasen steckte, die, schon wassergefüllt, auf der Spiegelkonsole standen. Den Kupferstich betrachtete er lange sinnend und sagte mit leiser Lippenbewegung die Worte des alten Anselme nach. Seine Augen, größer und blauer als je, dankten kinderhaft der Freundlichkeit der Freunde.
    »Lassen Sie uns in den Garten gehen,« sagte er dann konventioneller. »Es ist kühler draußen.«
    Im Eßzimmer, das sie durchschritten, ordnete die Frau Hauptmann Hummel mit dem Mädchen den Tisch. »Der Geburtstag ist freilich erst in einigen Tagen,« sagte sie zu Françoise, »aber es kommen bereits heute Gratulanten. Sie können nicht warten, die jungen Leute, sie haben alle ihre Stellungsorder schon in der Tasche. Mein Sohn Helmut geht nachher auch fort. Er hat in Königsberg
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