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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift
Autoren: Anselma Heine
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werdendes Gerede vieler Erregter brachte ihn zur Gegenwart zurück. Jetzt stürzte die Wirtin ins Wohnzimmer, die Schürze vor dem Mund, und schrie es hinein: nun sei es richtig mit dem Krieg, es stünde gedruckt an allen Straßenecken.
    Françoise, grell erweckt, sprang sogleich auf bis Füße, begriff alles, ordnete ihren Anzug und trieb Martin an, mit ihr hinunter auf die Straße zu gehen. Dann kehrte sie noch einmal um, den Kupferstich vorholend, den sie mitnehmen wollte. Wacher war sie als er, der sie forschend wie ein Fremder vonder Seite ansah, und dem die ihm neu gewordene Vergangenheit Fragen und Forderungen der Stunde verdeckte.
    Kaum aber waren sie draußen, als ihm, eingereiht in die dunkelziehenden Menschenmassen, jedes Eigengefühl verlorenging. Nur wie eine weitgeöffnete Schale fühlte er sich, durch die Ströme ein- und ausflossen.
    An den Straßenecken staute sich die Flut. Deutschlands Ultimatum an Rußland war da angeschlagen; aber die herandrängten, wußten schon darum, die Extrablätter waren in jedermanns Händen. Was man aufmerksam da las, waren die Nachrichten über die Mobilisierung der russischen Armee. Dazu die Depeschen von den letzten Tagen, in denen der Zar Nikolaus dem Deutschen Kaiser seine Ergebenheit und unverbrüchliche Friedenshaltung versichert. In Empörung standen die Leute davor. »Man hat ihn betrogen, den Kaiser!«
    Neben Françoise, die in der Menge stand und sich wider ihre Gewohnheit drängeln und pressen ließ, nahm ein Mann die Mütze ab. Er wischte sich mit seinem bunten Tuch den Kopf. »E' Viecherei isch's g'wese,« sagte er langsam. »D'r Kaiser isch zu ehrlich. Den kann mer dumm mache. Unsereinem hätt' des grad so passiere könne.«
    Françoise nickte ihm zu. Immer mehr wuchs eine begeisterte Wut an, die in Hochrufe auf den Kaiser umschlug. Der Mann neben Françoise stand unbeweglich. Man sah förmlich, wie er nachdachte. »Morge kauf' ich mir's Kaisers Bild,« sagte er endlich entschlossen. »Möge se sage, was se wolle, die von d'r Partei! Es soll in die Mitt' komme zwischen Liebknecht und Bebel.«
    Eingeengt unter den Begeisterten standen einige schweigende, höhnische Gestalten. Elsässer. Man sah verbissenen Groll, Unruhe und Angst. Martin fühlte mit ihnen. Wie Andersgläubige bei einer großen, heiligen Feier kamen sis ihm vor.
    Gesang klang auf: »Die Wacht am Rhein«. Soldaten! Die Leute schrien ihr »Kannst ruhig sein« laut in die Menschenmasse hinein, herausfordernd, prahlend. Eine Schar Schulbuben, deutsche und elsässische, zog in soldatischer Haltung hinten nach, gleichfalls singend, die Gesichter glühend vomRausch der Stunde, ohne nach deren Bedeutung zu forschen. Alte Mütterchen humpelten aus den Häusern, schlugen die Hände zusammen und lachten, wie sie immer lachten, wenn die Jugend etwas vorhatte, von dem sie nichts verstanden. Zwei junge Mädchen küßten sich in der Menge, eine schwangere Frau lief weinend mit hochgehobenen Armen von einem zum anderen und beschwor sie, ihr zu sagen, was das bedeute? Ob man ihr erklären könne? Serbien? Unsinn, was geht uns Serbien an! Ein ihr Unbekannter antwortete darauf ernst: »Es mußte einmal sein, liebe Frau. So ging's nicht weiter. Die Menschen waren zu genußsüchtig geworden.« Und er zündete sich eine neue Zigarre an.
    Die beiden Füeßli trieben jetzt im Strom der Deutschen gegen den Kleberplatz zu. Dort wohnte der Kunsthändler, zu dem Martin seine Mutter hatte führen wollen. Keiner von ihnen dachte noch daran. Aber ihre Füße führten mechanisch den einmal erhaltenen Auftrag aus.
    Sie kamen langsam vorwärts, fortwährend angesprochen von Mitströmenden und Begegnenden. Die Stadt hatte sich in zwei Familien geordnet. Eine finstere mit geballten Fäusten, die schwieg, die andere heiß entzündet und laut. Begrüßungsrufe flogen über die Straße, winkende Arme riefen heran. Und überall Lieder; plötzlich waren sie aufgesprungen wie Frühlingsblumen nach dem Regen. Die ganze Stadt war davon gefüllt. Nie war ein solches Singen gewesen in Straßburg. Der tiefliegende, hitzgraue Himmel schien alle Töne zurückzudrücken, sie, wie aus einer umgekehrten Herdpfanne, kochend wieder herabzugießen auf die Köpfe der Leute. Eine unbestimmte glühende Erregung floß umher in der Menge, wurde hier und da aufgenommen, geformt, gehärtet und zu Wurfgeschossen gegeneinander benutzt. Man hörte Schimpfworte der Deutschen, Flüche der Elsässer, Prahlen und Drohen, aber zu einer Rauferei kam es nicht.
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