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Die Verborgene Schrift

Titel: Die Verborgene Schrift
Autoren: Anselma Heine
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wissen, seinem Umgang, und sagte dann, sich die Hände trocknend, auf der Türschwelle wie beiläufig: »Nachts fahren wir dann. Am besten, du packst gleich nachher deine Sachen, damit du mit uns nach Hause reisen kannst.«
    Nach Hause! Wie das klang, so sicher und gerettet. Der heutige Tag mit seinem seelischen Hin und Her: die Blancs, die Flèche, dann Dora, Hanna, Helmut, die Elsässerin, nun hier die Eltern mit ihren widerwärtigen Eindrücken aus Frankreich, alles das wich weg von ihm, verstummte. »Ja, ich will mit,« sagte er laut, »mit euch nach Hause.«
    Als er aufblickte, erwischte er einen zufriedenen Blick, den die Eltern miteinander tauschten. Hatten sie also Widerstand von ihm erwartet? Fast schämte er sich nun des raschen Zugebens.
    Françoise umarmte ihn mit Heftigkeit. »Je älter ich werde, eine desto närrischere Mutter mache ich aus mir,« sagte sie lächelnd, aber ihre Lippen zuckten. »Heirate nie eine Französinoder eine Deutsche, Martin. Kommt dann ein Krieg, so ist dies ein Zerreißen in dir selbst und hinweg von den Deinen.«
    Pierre war gegangen. Françoise hatte es sich wieder auf dem Sofa bequem gemacht. Sie wollte ein wenig schlafen, während Martin im Nebenzimmer seine Sachen zusammenlegte für die Reise.
    Aber er saß vorerst da drinnen ganz still. Er hörte auf das Brausen in seiner Brust und suchte es sich zu deuten. Er faltete die Hände, wie er es als Kind getan, wenn es galt besser aufzupassen in der Schule. Und es wurde eine Art von Gebet, in dem sich seine Wünsche zu gedachten Worten formten: »Möge mir etwas geschehen. Etwas Starkes! Alles in mir bebt nach Leben, nach Gerufenwerden. Irgendwohin. Rufe mich!« Und er hörte einen Gesang und ein Geläute über den Häuptern der Stadttürme. Ihn aber rief es nicht.
    Er erhob sich und begann seine Kleider aus dem Schrank zu nehmen. Die Worte Père Anselmes kamen ihm in den Sinn: »ein großes Wecken«. Aber an ihm würde es vorbeitönen. Ihm fehlte beides: die Selbstverständlichkeit des Deutschen dem Kriege gegenüber und ebenso die Revanche-Aufregung des Franzosen. Nein, es war schon am besten, er ging nach Haus!
    Durch die offene Tür hindurch sah er die Mutter schlafen. Er ging hinein, um ihr die Decke, die herabgerutscht war, wieder über die Knie zu legen. Dabei warf er ungeschickt die bunte Schachtel um, die noch geöffnet stand. Ein paar der alten Briefe fielen heraus. Er bückte sich, sie aufzuheben. Dabei las er zufällig ein Wort: »Mein Lieb« von einer fremden Hand geschrieben. An wen war das? Er sah die Adresse »Mademoiselle Françoise Balde«. Dann las er den Bleistiftzettel Hummels aus Bollweiler vom vierzehnten Juli Siebzig. »Leb' wohl, bewahr' Dich mir,« rätselte mit der Hand weiter, indem er die Blätter nun einzeln in den Kasten zurücklegte, und fand den Sedanbrief mit den jubelnden Schlußzeilen:
    »Wir haben jetzt ein gemeinsames Vaterland, wir zwei. Der Krieg ist aus, bald komme ich. Dich mir zu holen.«
    Nun sah er auch zum erstenmal die Unterschrift. Aber begreifen konnte er immer noch nicht ganz. Rücksichtslos und keck faltete er jetzt ein anderes Blatt auseinander, noch eines, und sah seine schlafende Mutter an, die schön und würdig dalag, den silbergrauen Schleier schützend um das Haar gelegt. Mit beiden Händen hielt er sich den Kopf wie ein Entsetzter. Diese Entdeckung nach allen Erlebnissen des Tages überwältigte ihn. Er kam sich verraten vor und betrogen, nichts, an dem er sich noch halten konnte.
    Er ging ins Schlafzimmer zurück. Er wollte seine Mutter nicht sehen, während er über sie nachdachte. Von einer Verlobung vor ihrer Heirat mit Füeßli wußte er. Der Vater hatte einmal flüchtig davon gesprochen. Aber daß es der alte Geheimrat Hummel war! Er versuchte sich ihn vorzustellen, wie er einmal jung war, aber seine Phantasie vermochte es nicht. Und doch hatte er plötzlich das sonderbare Gefühl, er habe längst von solchem Zusammenhange zwischen sich und dem alten Herrn gewußt. Eine mysteriöse Gemeinsamkeit empfand er nun mit ihm, die aus einem ihm verborgenen Grunde süß war. Ganz verwandelt schien er sich. Als sei auf eine geheimnisvolle Weise etwas vom Blute des Hummelschen Geschlechts in seine Adern, geraten und mache ihn verwandt mit ihnen. Er sprang auf. Er wollte hin, gleich jetzt, Dora und Hanna sehen und mit ihnen davon sprechen. Der Krieg und alles Weltgeschehen war für einen Augenblick vergessen über dem Erlebnis an sich selbst.
    Einzelne Rufe und immer lauter
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