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Die Unzertrennlichen

Die Unzertrennlichen

Titel: Die Unzertrennlichen
Autoren: Lilian Faschinger
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ich gleichfalls versucht, den Verletzten zu helfen, so gut ich konnte.
    Meine Tante Dagmar hatte mich telefonisch über die Auswirkungen des Blitzschlages unterrichtet: Die Erblindung des Mesners hatte sich als vorübergehend herausgestellt, geblieben war eine gewisse Lichtempfindlichkeit. Auf seinen Wegen durch das Dorf hielt er blinzelnd jeden an, dem er begegnete, nahm dessen Hände und legte sie auf seine Augen.
    »Spürst du es?«, sagte er. »Es ist ein Wunder, ein echtes Wunder! Gott behütet die Seinen.«
    Auch der Ministrant hatte sich, abgesehen von gelegentlichen Schluckstörungen und Angstzuständen, rasch erholt und zeigte jedem, der sich dafür interessierte, die Lichtenbergsche Blitzfigur an seinem Unterarm, die allmählich verblasste.
    »Farnkrautartig«, sagte er. »Dendritisch, so heißt das Fremdwort. Man kann es auch auf den Fußristen haben.«
    Für Hochwürden Wojcik und den Großteil meiner Verwandten aber hatte der Blitzschlag gravierende Folgen: Der Pfarrer lag mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus, den er nur aufgrund der rechtzeitig eingeleiteten Wiederbelebungsmaßnahmen überstanden hatte. Ganz gesund würde er nicht werden, eine Herzschwäche und Rhythmusstörungen würden zurückbleiben. Außerdem hatte er schwere Verbrennungen an der rechten Hand und am Hals, denn er hatte eine Kette mit einem großen Kreuz getragen, die durch die Hitze regelrecht verdampft war.
    Meine Großmutter hatte einen Trommelfellriss erlitten, bei Blitzunfällen keine Seltenheit. Auch sie hatte Brandwunden an einer Hand und entlang der Wirbelsäule, dort, wo der Reißverschluss ihres Kleides geschmolzen war.
    »Kaum war sie wieder bei sich, hat sie ihren Taschenspiegel in der Handtasche gesucht«, sagte Tante Dagmar. »So eitel ist sie, noch mit achtzig, man glaubt es nicht. Als sie gesehen hat, dass ihre Haare versengt waren, hat sie aufgeschrien, nach Imelda gerufen und von ihr verlangt, dass sie sofort online eine brünette Perücke bestellt. Aber die Perücke ist noch nicht angekommen.«
    Meine Tante Beate war seit dem Malheur hochgradig desorientiert und konnte sich an nichts erinnern, was sich an den Tagen vor der Beerdigung zugetragen hatte. Eine klassische retrograde Amnesie. Ständig hob sie ihren Rock und zeigte allen den blauroten Streifen, den der Blitz verursacht hatte und der auf der Rückseite ihres Beins wie eine Strumpfnaht vom Oberschenkel bis zur Ferse hinunter verlief.
    »Wisst ihr, was das ist?«, fragte sie. »Es ist die Rache Gottes. Kehrt um auf euren sündigen Wegen, sonst kommt sie siebenfach über euch.«
    Bei Onkel Rudolf war eine Woche nach dem Ereignis eine Parese der Gesichtsmuskulatur aufgetreten, doch war zu hoffen, dass die Lähmung mit der Zeit ganz zurückgehen würde.
    Der Herzschrittmacher, den Onkel Hannes trug, war durch den Blitzschlag in Mitleidenschaft gezogen worden, was lebensgefährliches Kammerflimmern auslöste. Auch er überlebte nur aufgrund beharrlicher Reanimierungsversuche.
    Tante Dagmar war im Alter von achtundvierzig Jahren im vierten Monat schwanger gewesen, eine Tatsache, von der niemand außer ihr gewusst hatte, nicht einmal ihr Mann, Onkel Rudolf. Sie verlor das Kind. Nun wussten es alle.
    »Ich hatte natürlich nicht mehr damit gerechnet. Mit achtundvierzig schwanger, zum ersten Mal, stell dir das vor!«, vertraute sie mir am Telefon an. »Es war ein Mädchen. Sogar einen Vornamen hatte ich schon für sie. Carmen.« Sie seufzte. »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.«
    Dem Großvater ging es ausgezeichnet.
    »Und du?«, fragte Stefan. »Wie geht es dir? Bist du noch an der Rechtsmedizin in Wien?«
    »Ja«, sagte ich.
    »Gefällt dir die Arbeit? Sie muss manchmal ziemlich trist sein.«
    »Doch«, sagte ich, »die Arbeit gefällt mir. Ich finde sie interessant.«
    »Was genau machst du?«
    »Ach, ich betreibe ein bisschen Forschung über die Identifikation von Menschen mittels DNA -Analyse und den Nachweis von Giften an exhumierten Leichen, außerdem halte ich eine Vorlesung über forensische Taphonomie und ein Seminar über gerichtliche Medizin und Selbsterfahrung. Gelegentlich werde ich auch als Sachverständige beigezogen. Ja, und manchmal holt mich die Kripo an einen Tatort.«
    Stefan schüttelte den Kopf.
    »Klingt deprimierend.«
    »Na ja, wie man’s nimmt. Mir sind Tote lieber als kranke Kinder.«
    Der Mann meiner ehemals besten Freundin hatte sich wenig verändert. Sein Haar hatte sich an der Stirn etwas gelichtet und war an den
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