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Die Unzertrennlichen

Die Unzertrennlichen

Titel: Die Unzertrennlichen
Autoren: Lilian Faschinger
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schwer, die Augen offen zu halten. Als meine Großmutter mich mit dem Ellbogen in die Seite stieß, schreckte ich auf und hörte noch den letzten Satz: »An jedem Ende steht ein Anfang.«
    Hinter dem Mesner, der das Kreuz trug, dem Pfarrer in seinem schwarzen Talar und seinem violetten Pluviale, hinter den beiden Ministranten mit Weihwassergefäß, Weihwasserwedel, Weihrauchfass und dem Schiffchen mit den Weihrauchkörnern, hinter dem Sarg, den Großeltern und den beiden Brüdern meines Vaters mit ihren Ehefrauen trat ich durch das Kirchenportal ins Freie. Es war drückend schwül, im Westen zogen dunkelgraue Wolken auf. Während wir uns durch die Reihen der pedantisch gepflegten Gräber, auf deren Steinen sich die Familiennamen wiederholten, langsam zur offenen Grube hin bewegten, blickte ich zurück und wunderte mich über die lange, gewundene Schlange von Menschen hinter mir. Ich hatte nicht erwartet, dass so viele Leute an der Beerdigung teilnehmen würden. Auch der junge Mann im Steireranzug mit den vier Brauenpiercings war darunter. Hatte mein Vater sie alle gekannt? Ich wusste, er hatte das Dorf gehasst, aber nicht die Kraft gehabt, es zu verlassen. Meine Großmutter, seine Mutter, bannte ihn mit ihrem pechschwarzen Hexenblick, bis er sich kaum noch zu rühren vermochte. So konnte sie mühelos an ihm zehren. Die ihrem Sohn genommene Energie reichte für sie selbst und für ihren Ehemann mit dem Allgemeinen Sturmabzeichen. Wahrscheinlich waren so viele Dorfbewohner gekommen, weil sie sich ehrlich darüber freuten, dass wieder einer, so wie sie selbst, den Weg hinaus nicht geschafft hatte.
    Die Großmutter hatte den Großvater fest untergehakt. Aufrecht schritten sie dahin in ihren dunklen Gewändern aus gutem Stoff.
    »Du gehst hinter uns«, hatte sie zu mir gesagt, als ich neben ihnen hatte gehen wollen, und mich resolut zurückgeschoben, hinter meine beiden Onkel mit ihren Frauen. Also ging ich allein.
    Vor dem Familiengrab blieb der Mesner stehen. Mein Vater war der Erste, der darin beerdigt wurde. Ein Kind sollte nicht vor seinen Eltern sterben. Immerhin, die Großeltern, jetzt noch das blühende Leben, würden ihm früher oder später folgen. Sie waren an die achtzig: Wenn sie nicht bald ein neues Opfer fanden, dessen Lebenskraft sie für sich nutzen konnten, dann eher früher.
    Keine Abordnungen, keine Verbände, kein Gesangsverein, keine Reden. Der Pfarrer las die Bergpredigt. Der Himmel verfinsterte sich weiter, Wind kam auf und fuhr durch die Blätter der Bibel, die er in Händen hielt. Das violette Pluviale blähte sich. In der Laterne, die neben mir auf einem Grab stand, verlöschte das Kerzenlicht. Die Thuje hinter dem Grabstein bog sich. In der Ferne zuckten Blitze, es donnerte leise. Unter den Trauergästen entstand Bewegung, einige hielten ihre Hüte fest. Ich erkannte nur wenige Gesichter. Zum Großteil waren es ältere Leute, Weinbauern, Bekannte meiner Großeltern. Vielleicht waren sie ihretwegen gekommen und nicht meinem toten Vater zuliebe?
    »Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein«, sprach Hochwürden Wojcik.
    Ein Windstoß warf eine große Vase mit Chrysanthemen um. Das Kirchentor fiel mit einem lauten, dumpfen Schlag zu. Ein langer Blitz teilte den bleigrauen Himmel, und etwa zehn Sekunden später folgte ein Knall. Eine meiner beiden Tanten stieß einen hohen, spitzen Schrei aus, ihr Mann, der einen Herzschrittmacher trug, begann zu schluchzen. Meine Großmutter wandte sich um.
    »Hör auf, Hannes, du darfst dich nicht aufregen«, fauchte sie. »Und du, Beate, beherrsch dich gefälligst!«
    Es blitzte und donnerte in immer kürzeren Abständen, doch kein Regentropfen fiel. Der Pfarrer segnete eilig das Grab, die Sargträger stemmten sich gegen den Wind und schwankten, während sie den Schrein in die Grube hinabließen. Dem Ministranten fiel das Weihwassergefäß aus der Hand, als er dem Pfarrer das Aspergill reichte. Ich hatte kein Bedürfnis zu weinen.
    Hochwürden Wojcik warf ein bisschen Erde auf den Sarg. Als er meiner Großmutter, der Hexe, den Spaten weitergab, schlug der Blitz in das Werkzeug ein.
    Während meines Medizinstudiums habe ich mir ein paar oberflächliche Kenntnisse über Blitze und Blitzunfälle angeeignet. Bei einem schweren Gewitter können sich innerhalb von Sekundenbruchteilen einige Millionen Volt an Spannung mit einer Stromstärke von mehreren hunderttausend Ampere über den Blitz entladen. Die Luft im Blitzkanal erhitzt sich auf etwa
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