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Die Unzertrennlichen

Die Unzertrennlichen

Titel: Die Unzertrennlichen
Autoren: Lilian Faschinger
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soll«, antwortete meine Kusine Imelda unverzüglich, denn sie war gebildet.
    »Ja, ja, das mag schon sein«, sagte Tante Dagmar. »Aber es stimmt, dass diese Frau etwas Überspanntes an sich hatte. Etwas Extremes. Eine typische Künstlerin. Es wundert einen nicht, dass sie ein so schreckliches Schicksal ereilt hat.«
    »Ihr Mezzosopran war auch nicht so besonders«, sagte meine Kusine Imelda leise. »Ihre Stimme war nicht schlecht, aber nicht so außergewöhnlich, wie alle behauptet haben. Guter Durchschnitt.«
    »Da hast du recht, mein Kind«, sagte meine Großmutter und tätschelte Imeldas Hand. Sie hatte sie immer lieber gemocht als mich. »Höchstens. Dein Sopran ist viel schöner, viel harmonischer, kein Vergleich! Wir werden ihn ja heute noch in der Christmette zu hören bekommen.«
    Meine Kusine lächelte verschämt und schlug die Glotzaugen nieder.
    Wenn es mir möglich gewesen wäre, aufzustehen und zu gehen, wäre ich gegangen. Aber das Gehen tat weh, und in den karierten Stoffhausschuhen meiner Großmutter wäre ich nicht weit gekommen. Mein Polo stand noch am Waldrand, dort, wo ich ihn abgestellt hatte, als ich in die Mühle geflohen war.
    »Was passiert denn jetzt mit dem Doktor?«, fragte Onkel Rudolf.
    »Es wird ihm der Prozess gemacht, was sonst? In Graz. Mord und Mordversuch«, sagte die Witwe Dirnböck und lächelte hämisch. »Dafür sitzt man ganz schön lange.«
    »Wahrscheinlich kommt er in die Anstalt für abnorme Rechtsbrecher«, vermutete Onkel Hannes. »In der Karlau in Graz ist ein Bereich für diese Abartigen reserviert. Das wäre doch das Richtige für ihn.«
    »Blödsinn!«, sagte der Großvater und machte eine resolute horizontale Handbewegung in Höhe seines Halses. »Kopf ab, sage ich! Kopf ab!«
    Die Großmutter stand auf und strich ihr Festtagskleid glatt. Ihr rabenschwarzes Haar war frisch onduliert. »So, die Gans müsste inzwischen gar sein«, sagte sie. »Es gibt Rotkraut und Erdäpfelknödel dazu.«
    Ich beschloss, auf den Besuch der Christmette zu verzichten. Bis auf meine Großmutter, die katholische Hexe, würde man es mir nachsehen.
    Erleichtert streckte ich mich im Ohrensessel meines Großvaters aus, der sogar ein Fußteil hatte. Meine Füße schmerzten weniger, wenn ich sie hoch lagerte. Nach ausgiebigem Essen und Trinken, dem Anzünden des Christbaums und der sogenannten Bescherung waren alle bis auf mich zur Messe aufgebrochen. Einzig meine Kusine Imelda war nicht alkoholisiert. Der Großvater hatte sich zu Ehren der Festlichkeit die neue, ovale Medaille mit der Aufschrift Blank die Wehr, rein die Ehr angesteckt. Meine Großmutter hatte sich, wie anzunehmen gewesen war, wenig erbaut gezeigt über meinen Entschluss, der Heiligen Messe fernzubleiben.
    »Gerade heute! Du solltest dem Herrn für deine Errettung aus höchster Not danken. Die Gottlosigkeit in Person, dieses Mädchen!«
    »Es sind die Gene«, sagte Onkel Rudolf. »Brasilianischerseits. Das Kind ist nur zum Teil verantwortlich. Außerdem ist sie gesundheitlich angeschlagen.« In ihm hatte ich immer einen Fürsprecher.
    »Eben deshalb«, sagte meine Großmutter. »Ihre Anwesenheit bei der Mitternachtsmette würde die Genesung erheblich beschleunigen.«
    Ich lehnte mich im Stuhl des Großvaters zurück und betrachtete den Christbaum. Ich musste lächeln. Er erinnerte mich an meine Kindheit.
    Lametta in großzügigen Mengen, bunte Wachskerzen in silbrigen Kerzenhaltern, farbige Kugeln und gläserne Figuren – ein Tannenzapfen, ein glitzernder Pantoffel, ein Fliegenpilz, ein Vogel mit Glasfaserschwanz –, Schokoladenüsse in glänzendem Stanniol, Fondantringe und Ringe aus Windbäckerei mit bunten Streuseln, Bonbons in pastellfarbenem, gefranstem Wickelpapier. Auf dem Gipfel des Baumes eine goldene Christbaumspitze. Und jede Menge Spritzkerzen, zum Teil verbrannt. Ihr typischer Geruch hing noch im Raum. Ich stand auf, zündete die Kerzen, die meine Großmutter ausgelöscht hatte, nochmals an, setzte mich wieder, blickte wie hypnotisiert auf die flackernden Lichter und versuchte mir ins Gedächtnis zu rufen, was sich in den letzten Tagen, Wochen und Monaten ereignet hatte. Da klingelte mein Handy, das ich aus dem Winzerhaus geholt hatte, zusammen mit allen anderen Dingen, die mir gehörten. Ich hatte mich möglichst kurz im Haus aufgehalten und es verlassen, ohne mich umzusehen.
    »Frohe Weihnachten!«, sagte Emma. »Wie geht es dir?«
    »Gut«, sagte ich. »Dir auch ein frohes Fest.«
    »Ich habe mit Philipp und
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