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Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks

Titel: Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Autoren: Rebecca Skloot
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vermutete, es sei ein Syphilisgeschwür. Aber der Test fiel negativ aus. Nun riet er Henrietta, sie solle sich in die gynäkologische Abteilung des Johns Hopkins Hospital begeben.
    Das Hopkins war eines der besten Krankenhäuser in den ganzen Vereinigten Staaten. Man hatte es 1889 als gemeinnützige Klinik für die Kranken und Armen errichtet, und im Osten von Baltimore, wo sich früher ein Friedhof und eine Nervenheilanstalt befunden hatten, erstreckte sich jetzt der Klinikkomplex – über mehr als fünf Hektar. Die öffentlichen Stationen waren voller Patienten, die meisten von ihnen Schwarze, die ihre Arztrechnungen nicht bezahlen konnten. David fuhr Henrietta die mehr als 30 Kilometer zur Klinik – nicht weil sie ihnen am liebsten gewesen wäre, sondern weil sie im weiten Umkreis das einzige Krankenhaus war, das farbige Patienten
behandelte. Es war die Zeit der Rassengesetze: Wenn Farbige in ein nur für Weiße vorgesehenes Krankenhaus kamen, wurden sie in der Regel weggeschickt – selbst wenn das bedeutete, dass sie auf dem Parkplatz starben. Das Hopkins nahm zwar Schwarze auf, aber auch hier lagen sie auf eigenen Stationen und hatten eigene Trinkbrunnen.
    Die Schwester rief Henrietta aus dem Wartezimmer und führte sie durch eine schmale Tür in ein Untersuchungszimmer für Farbige. Es war einer in einer langen Reihe von Räumen, die durch Glaswände getrennt waren, so dass die Krankenschwestern von einem in den anderen blicken konnten. Henrietta zog sich aus, wickelte sich in ein gestärktes weißes Kliniknachthemd und legte sich auf einen hölzernen Untersuchungstisch. Dort wartete sie auf Howard Jones, den diensthabenden Gynäkologen. Jones war mager, seine Haare wurden schon grau, und seine tiefe Stimme klang durch den Südstaatenakzent etwas weicher. Als er ins Zimmer kam, erzählte Henrietta ihm von dem Knoten. Bevor er sie untersuchte, blätterte er ihre Akte durch – eine unvollständige Skizze ihres Lebens und eine Litanei nicht behandelter Krankheiten:
    Schule bis zur sechsten oder siebten Klasse; Hausfrau und Mutter von fünf Kindern. Seit der Kindheit Atembeschwerden wegen rezidivierender Racheninfektionen und Schiefstand der Nasenscheidewand. Hausarzt hat chirurgische Korrektur empfohlen, Patientin hat abgelehnt. Patientin hatte nahezu fünf Jahre lang den gleichen Zahnschmerz; Zahn wurde schließlich zusammen mit mehreren anderen gezogen. Einziges Sorgenkind ist die älteste Tochter, die Epileptikerin ist und nicht sprechen kann. Glückliches Familienleben. Alkoholgenuss nur sehr gelegentlich. Ist nie gereist. Gut ernährt, kooperativ. Patientin war eines von zehn Geschwistern. Eines kam bei einem Autounfall ums Leben, eines starb
an rheumatischen Herzbeschwerden, ein drittes an einer Vergiftung. Während der letzten beiden Schwangerschaften unerklärliche vaginale Blutungen und Blut im Urin; Hausarzt hat Test auf Sichelzellanämie empfohlen. Patientin hat abgelehnt. Seit dem Alter von 15 Jahren mit dem Ehemann liiert, keine besondere Vorliebe für Geschlechtsverkehr. Patientin leidet an asymptomatischer Neurosyphilis, hat aber Syphilistherapie abgebrochen und erklärt, sie fühle sich wohl. Zwei Monate vor dem jetzigen Besuch, nach der Entbindung vom fünften Kind, hatte die Patientin beträchtliche Blutmengen im Urin. Test ergab Bereiche mit erhöhter Zellaktivität in der Cervix. Arzt hat Diagnostik empfohlen und sie zum Ausschluss von Infektionen oder Krebs an den Facharzt überwiesen. Patientin sagte Termin ab. Einen Monat vor dem jetzigen Besuch positiver Test auf Gonorrhöe. Patientin wurde an den Kliniktermin erinnert. Keine Reaktion.
    Dass sie bei allen diesen Gelegenheiten nicht zur Nachuntersuchung kam, war nicht verwunderlich. Ein Besuch im Hopkins war für Henrietta wie eine Reise in ein fremdes Land, dessen Sprache sie nicht beherrschte. Sie wusste, wie man Tabak erntet und ein Schwein schlachtet, aber die Wörter Cervix oder Biopsie hatte sie nie gehört. Sie las und schrieb nicht viel, und in der Schule hatte sie keinen naturwissenschaftlichen Unterricht gehabt. Wie die meisten farbigen Patienten ging sie nur dann ins Hopkins, wenn sie glaubte, dass ihr nichts anderes mehr übrig blieb.
    Jones hörte zu, wie Henrietta ihm von den Schmerzen und dem Blut erzählte. »Sie sagt, sie wisse, dass mit ihrem Muttermund etwas nicht stimmt«, schrieb er später. »Auf die Frage, woher sie das wisse, erwiderte sie, es fühle sich an, als sei dort ein Knoten. Ich weiß nicht genau, was sie
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