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Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks

Titel: Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Autoren: Rebecca Skloot
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Haut ist glatt, die Augen sind jung und vergnügt; sie ahnt noch nichts von dem Tumor in ihrem Körper – einem Tumor, der fünf Kinder zu Waisen machen und die Geschichte der Medizin verändern sollte. Der Beschriftung am unteren Bildrand zufolge hieß sie »Henrietta Lacks, Helen Lane oder Helen Larson«.
    Wer das Foto aufgenommen hat, weiß niemand, aber es war viele hundert Mal in Magazinen und wissenschaftlichen Lehrbüchern zu sehen, in Blogs und an Laborwänden. Meistens wird die abgebildete Frau Helen Lane genannt, oft hat sie aber auch gar keinen Namen. Dann heißt sie einfach HeLa – diesen Codenamen erhielten die ersten unsterblichen menschlichen Zellen; es waren ihre Zellen, entnommen aus ihrem Gebärmutterhals wenige Monate vor ihrem Tod.
    In Wirklichkeit hieß sie Henrietta Lacks.
    Jahrelang habe ich dieses Foto immer wieder angestarrt und mich gefragt, was für ein Leben sie wohl geführt hat. Was war aus ihren Kindern geworden, und was hätte sie davon gehalten, dass die Zellen aus ihrem Gebärmutterhals ewig weiterleben – dass sie zu Billionen gekauft, verpackt, verkauft und an Labors auf der ganzen Welt verschickt werden? Was hätte sie empfunden, wenn sie gewusst hätte, dass ihre Zellen auf den
ersten Raumflügen mit dabei waren, weil man wissen wollte, wie sie sich unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit verhalten? Oder dass sie zu einigen der wichtigsten medizinischen Fortschritte unserer Zeit beigetragen haben: zum Beispiel zur Entwicklung des Impfstoffs gegen Kinderlähmung, zur Chemotherapie, zur Klonierung, Genkartierung, künstlichen Befruchtung? Mit ziemlicher Sicherheit wäre sie (wie wahrscheinlich die meisten von uns) schockiert gewesen, dass in den Labors heute millionenmal mehr von ihren Zellen wachsen, als ihr Körper je hatte.
    Wie viele Zellen von Henrietta gegenwärtig am Leben sind, lässt sich unmöglich sagen. Könnte man alle jemals gezüchteten HeLa-Zellen auf einer Waage aufschichten, würden sie nach Schätzungen eines Wissenschaftlers mehr als 50 Millionen Tonnen wiegen – eine unvorstellbare Zahl angesichts der Tatsache, dass eine einzige Zelle so gut wie nichts wiegt. Würde man alle jemals gezüchteten HeLa-Zellen hintereinanderlegen, so die Berechnung eines anderen Wissenschaftlers, würden sie die Erde mehr als dreimal umspannen – eine Kette von über 120 000 Kilometern. Henrietta selbst war in ihren besten Jahren etwas mehr als 1,50 Meter groß.
    Von den HeLa-Zellen und der Frau, von der sie stammten, erfuhr ich 1988, 37 Jahre nach ihrem Tod. Ich war damals 16 und saß in einem städtischen College im Biologieunterricht. Unser Lehrer Donald Defler, ein kahlköpfiger kleiner Mann, ging im Hörsaal nach vorn und schaltete den Overheadprojektor ein. Dann deutete er auf zwei Diagramme, die hinter ihm an der Wand aufleuchteten. Sie zeigten in schematischer Darstellung den Vermehrungszyklus einer Zelle; für mich aber sahen sie aus wie ein neonfarbenes Durcheinander aus Pfeilen, Quadraten und Kreisen. Dazwischen standen Worte und Halbsätze, die ich nicht verstand, beispielsweise »MPF löst eine Kettenreaktion der Proteinaktivierung aus«.

    Als Jugendliche war ich an der normalen Highschool im ersten Jahr durchgefallen, weil ich nie zum Unterricht erschienen war. Daraufhin wechselte ich an eine alternative Schule, an der Traumdeutung unterrichtet wurde statt Biologie. Die Stunden bei Defler besuchte ich, um den Highschool-Abschluss nachzuholen; deshalb saß ich mit sechzehn in einem Hörsaal, in dem mir Begriffe wie Mitose oder Kinase um die Ohren flogen. Ich verstand nur Bahnhof. »Müssen wir diese Diagramme in allen Einzelheiten auswendig lernen?«, fragte ein Student.
    Ja, sagte Defler, wir müssten die Diagramme auswendig lernen und sie kämen auch in der Klausur dran. Im Moment aber spiele das erst einmal keine Rolle. Zunächst sollten wir verstehen, welche verblüffenden Fähigkeiten die Zellen haben. Ungefähr hundert Billionen von ihnen bilden unseren Körper, und jede einzelne ist so klein, dass mehrere tausend auf den Punkt am Ende dieses Satzes passen würden. Sie sind die Bausteine aller Arten von Gewebe – Muskeln, Knochen, Blut -, und die wiederum sind die Bestandteile unserer Organe. Unter dem Mikroskop sieht eine Zelle aus wie ein Spiegelei: Der weiße Teil (das Cytoplasma ) besteht aus Wasser und Proteinen, die für die Ernährung sorgen, und im Dotter (dem Zellkern ) liegen die genetischen Informationen, die jedes Individuum zu dem machen,
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