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Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks

Titel: Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks
Autoren: Rebecca Skloot
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damit meint, es sei denn, sie hätte den Bereich tatsächlich abgetastet.«

    Henrietta legte sich auf den Untersuchungstisch, presste die Füße in die Halterungen und starrte die Decke an. Tatsächlich fand Jones genau an der Stelle, von der sie gesprochen hatte, einen Knoten. Er beschrieb ihn als zerklüftete, harte Masse von der Größe eines 5-Cent-Stücks. Wenn er den Muttermund mit einem Zifferblatt verglich, befand sich der Knoten bei 4 Uhr. Er hatte sicher schon tausend Cervixkarzinome gesehen, aber so etwas war ihm noch nie untergekommen: glänzend, dunkelrot (»wie Wackelpudding von Traubensaft«, schrieb er später) und so empfindlich, dass es bei der geringsten Berührung zu bluten begann. Jones schnitt eine kleine Probe heraus und schickte sie zur Diagnose ins pathologische Labor auf der anderen Seite des Korridors. Dann schickte er Henrietta nach Hause.
    Ein wenig später saß Howard Jones an seinem Schreibtisch und diktierte Notizen über Henrietta und die Diagnose: »Ihre Krankengeschichte ist insofern interessant, als sie hier in der Klinik am 19. September 1950 eine termingerechte Entbindung hatte«, sagte er. »In der Akte aus jener Zeit und dem Bericht über die Nachuntersuchung sechs Wochen später wird keine Anomalie der Cervix erwähnt.«
    Jetzt aber, drei Monate später, war sie wieder da und hatte einen voll ausgeprägten Tumor. Entweder hatten die Ärzte ihn während der letzten Untersuchungen übersehen – was unmöglich erschien -, oder aber er war mit entsetzlicher Geschwindigkeit gewachsen.

2
    Clover
    H enrietta Lacks wurde am 1. August 1920 unter dem Namen Loretta Pleasant in Roanoke in Virginia geboren. Wie daraus Henrietta wurde, weiß niemand. Eine Hebamme namens Fannie brachte sie in einer kleinen Baracke an einer Sackgasse zur Welt. Man hatte von dort den Blick auf ein Eisenbahndepot, in dem jeden Tag Hunderte von Güterwagen verkehrten. Bis 1924 lebte Henrietta mit ihren Eltern und acht älteren Geschwistern in diesem Haus; dann starb ihre Mutter Eliza Lacks Pleasant bei der Geburt des zehnten Kindes. Johnny Pleasant, Henriettas Vater, war ein vierschrötiger Mann, der an einem Stock ging – mit dem er im Übrigen häufig nach den Leuten schlug. Einer Familienlegende zufolge hatte er seinen Bruder umgebracht, weil der versucht hatte, mit Eliza anzubändeln. Johnny hatte nicht die Geduld, Kinder großzuziehen; nach Elizas Tod brachte er sie alle nach Clover in Virginia, wo seine Angehörigen immer noch die Tabakfelder bestellten, auf denen ihre Vorfahren als Sklaven gearbeitet hatten. Alle zehn Kinder konnte in Clover niemand aufnehmen, also wurden sie unter den Angehörigen aufgeteilt – das eine kam zu irgendeinem Vetter, das andere zu einer Tante. Henrietta landete bei ihrem Großvater Tommy Lacks.
    Tommy wohnte in einem »Home-House«, wie man hier allgemein sagte – einer 4-Zimmer-Holzhütte, die früher als Sklavenunterkunft gedient hatte. Sie hatte einen Bretterfußboden und Gaslampen; das Wasser musste Henrietta über einen Hügel vom Bach heraufschleppen. Das Home-House stand auf einer Anhöhe, und der Wind pfiff durch die Mauerritzen. Im Inneren war die Luft so kühl, dass die Familie die Leichen verstorbener
Angehöriger tagelang im vorderen Korridor aufbahren konnte, um ihnen die letzte Ehre zu erweisen. Anschließend wurden sie dann auf dem Friedhof hinter dem Haus bestattet. Henriettas Großvater zog bereits einen anderen Enkel groß, den eine seiner Töchter zurückgelassen hatte, nachdem er auf dem Fußboden des Home-House zur Welt gekommen war. Dieses Kind hieß David Lacks, wurde aber allgemein nur Day genannt: In der gedehnten Sprechweise der Region hört sich »house« wie hyse an, und David klingt wie Day .
    Der kleine Day war ein Pannenkind, wie man in der Familie Lacks sagte: Ein Mann namens Johnny Coleman war auf der Durchreise in den Ort gekommen, und neun Monate später kam Day. Munchie, eine zwölfjährige Cousine und Hebamme, hatte geholfen, ihn zur Welt zu bringen; er war am ganzen Körper blau wie der Sommerhimmel und atmete nicht. Ein weißer Doktor mit Filzhut und Spazierstock kam in das Home-House, schrieb »Totgeburt« auf Days Geburtsurkunde und fuhr dann mit seinem Pferdewagen, der eine rote Staubwolke hinterließ, zurück in die Stadt.
    Derweil betete Munchie: »Herr, ich weiß, dass Du dieses Baby nicht zu Dir nehmen willst.« Sie wusch Day in einer Wanne mit warmem Wasser, dann legte sie ihn auf ein weißes Laken, streichelte ihn und
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