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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Autoren: Aurélien Molas
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die Falten ihrer Tunika und zog eine vom Regen aufgeweichte Broschüre heraus. Die Tinte war zerlaufen, und die Pappe war zerrissen, trotzdem erkannte Pater David einen der Tausende von Faltprospekten, die das Waisenhaus in den Kinderkliniken und auf den Kinderstationen von Krankenhäusern verteilt hatte. Er und die anderen Priester waren auf einem Schwarz-Weiß-Foto inmitten ihrer Schützlinge zu sehen.
    »Da habe ich verstanden, dass mir das Schicksal ein Zeichen gesandt hatte«, sagte sie mit heiserer Stimme.
    Der Priester zündete sein Feuerzeug an und führte es an seine Zigarre. Der Widerschein der Flamme funkelte in den Augen des kleinen Mädchens, das einen durchdringenden Schrei ausstieß und sich an den Hals seiner Mutter flüchtete.
    »Was hat sie?«, rief Pater David.
    »Sie fürchtet sich vor Feuer. Wegen dem, was sie ihr angetan haben.«
    Sie streichelte das Haar ihres Kindes und flüsterte die Worte eines Abzählreims der Haussa.
    »Sie wollten sie mit Flammen reinigen. Der Pastor sagte, das sei das einzige Mittel, um ihr das Böse auszutreiben.«
    »Es tut mir leid«, flüsterte der Missionar.
    Irritiert vom Schluchzen des Kindes, warf er die Zigarre in den Hof und streckte die Arme aus.
    »Kann ich sie nehmen?«
    Die Mutter zögerte. Ein mattes Lächeln tanzte auf ihren Lippen, ein Lächeln, halb Erleichterung darüber, dass sie getan hatte, was sie tun musste, um ihr Kind zu retten, halb herzzerreißender Schmerz darüber, dass sie es zurücklassen musste.
    Der Priester nahm das kleine Mädchen in seine Arme, und eine unerklärliche Anwandlung von Zärtlichkeit erwärmte ihm das Herz.
    Der lauwarme Körper, der sich an ihn kuschelte, roch nach Milch und frisch geschnittenen Kräutern. Und dieser Geruch hielt den schwereren von Erde und den salzigen von Schweiß auf Distanz. Er schob die Hand unter den Nacken des kleinen Mädchens, und als er sie ansah, schlug sein Herz schneller. Seltsamerweise schien das Herz von Naïs nach und nach im gleichen Rhythmus zu schlagen.
    Sie wirkte so zerbrechlich, so zart, dass er fürchtete, ihr die Knochen zu brechen, wenn er sie drückte. Diese schwarzen Augen, die ihn zuerst erschreckt hatten, schimmerten jetzt sanft wie eine Sommernacht. Ihre braune Haut, die an den Wangen rotbraun war, war nicht so dunkel wie die ihrer Mutter, als ob …
    Ihr Vater ist ein Weißer.
    Er legte diese Schlussfolgerung sorgfältig in einem Winkel seines Gehirns ab und sagte sich immer wieder, dieses Kind sei zu jung, um seine Tochter sein zu können. Doch so fest seine Überzeugung auch war, hatte ein Zweifel – ein sehr schwacher, aber durchaus realer Zweifel – seine zersetzende Wirkung begonnen, und die Zukunft sollte ihn weiter verstärken.
    Die Mutter streichelte lange das Gesicht ihrer Tochter, als fürchtete sie, diese würde sie vergessen. Die Gedanken des Priesters erratend, flüsterte sie: »Das ist unsere Tochter. Aber es ist egal, ob du mir glaubst oder nicht. Du musst sie beschützen. Ich kann nicht mehr nach Hause gehen, und Naïs würde es nicht überleben, wenn ich sie mitnehmen würde … «
    »Sie wird hier sicher sein.«
    Sie schüttelte den Kopf und drückte noch einmal Naïs’ Hand.
    »Schwör mir, dass du sie beschützt.«
    Pater David meinte es ernst, als er sagte: »Ich gebe Ihnen mein Wort.«

September 2004

4
    Pater David setzte die Brille ab und schloss die Augen. Er legte Zeigefinger und Daumen auf seine Lider und verharrte einen Moment so. Das Weinen der Waisenkinder löste eine leichte Migräne bei ihm aus, und er konnte es kaum erwarten, sich in Dunkelheit und Stille einzusperren. Er atmete tief ein und versuchte, die Ängste zurückzudrängen, die ihm seit mehreren Monaten den Magen zusammenkrampften. Er öffnete die Augen, und sein Blick richtete sich auf das Kruzifix über seinem Schreibtisch. Das rötliche Licht der Sturmlaterne vermittelte die Illusion, Christus brenne inmitten der Flammen. Pater David verstellte die Lampe und las noch einmal den Brief, den er gerade geschrieben hatte.
    Eure Eminenz,
    ich befürchte, dass sich die Lage hier in Nigeria zuspitzt. Ich habe Ihre Zweifel bezüglich des »Wunders«, von dem ich Ihnen berichtet habe, zur Kenntnis genommen. Aber ich erlaube mir, noch einmal darauf hinzuweisen, dass dieses Kind eine Anomalie aufweist, die ich in aller Ruhe studieren konnte.
    Ich wünschte, Sie könnten dies mit eigenen Augen sehen, und ich wiederhole meine Bitte: Helfen Sie mir, Naïs außer Landes zu schaffen. In
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