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Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Die Unseligen: Thriller (German Edition)

Titel: Die Unseligen: Thriller (German Edition)
Autoren: Aurélien Molas
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jene Betroffenheitsmiene auf, die sein Gegenüber normalerweise sofort Vertrauen zu ihm fassen ließ.
    Da er es Hunderte Male wiederholt hatte, wusste er, was er zu den Eltern sagen musste, um sie zu beruhigen, sie auf das hinzuweisen, was sie ihren Kindern nicht mehr geben konnten. Denn er hatte schon längst aufgehört, sie zu überreden, ihr Baby zu behalten. Die Junkies und die Kranken im Endstadium waren emotional so labil, dass es genügte, das Bedürfnis des Kindes nach Liebe zu erwähnen, damit sie sich anders besannen. Dann versprachen sie, sich um ihr Kind zu kümmern, schworen, liebevoll für es zu sorgen und sogar ihr Leben zu ändern. Aber diese Versprechen hielten nur bis zur nächsten Crackpfeife oder einem neuen Schmerzanfall. Und die tiefen Wasser des Niger verbargen allzu viele Leichen von Neugeborenen.
    »Unser Heim«, sagte er, wobei er jede Silbe deutlich von der nächsten absetzte, »bietet Ihrem Kind eine echte Chance. Es wird medizinisch versorgt, und wir geben ihm drei Mahlzeiten am Tag. Wir legen großen Wert auf Bildung, wir bringen ihm Lesen und Schreiben bei. Sie sollten auch wissen, dass wir regelmäßig Ausbildungsgänge für verschiedene Berufe organisieren … «
    Er hielt inne, da er sich zunehmend unwohl fühlte, ohne es sich erklären zu können. Die Frau sah ihn an, genauer gesagt: Sie starrte ihn an, höchst konzentriert, aber scheinbar ohne ihm zuzuhören.
    »Sofern kein Adoptionsantrag gestellt wird, behalten wir die Kinder bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag, und wir tun unser Möglichstes, damit sie später Arbeit finden.«
    »Du erkennst mich nicht, oder?«, unterbrach sie ihn.
    »Wie bitte?«
    »Du erinnerst dich wirklich nicht an mich, wie?«
    Ein fassungsloser Pater David verstummte. Die Stimme dieser Frau, ihr moduliertes Timbre, rief ihm tatsächlich etwas in Erinnerung, ein fernes Gefühl, wie von Nebel umhüllt, als ob eine Kraft tief in seinem Innern, vielleicht sein Gewissen, ihn sorgfältig auf Distanz hielt.
    »Nein, tut mir leid … « Nach kurzem Zögern fragte er: »Sind wir uns schon einmal begegnet?«
    »Du hast mit mir geschlafen.«
    Der Priester war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Der Satz schwebte einen Moment zwischen ihnen, losgelöst von jeder Wirklichkeit. Das Rauschen des Windes, das Plätschern des Regens auf dem gestampften Boden, das regelmäßige Schlagen eines Fensterladens gegen die Mauer, alles war verschwunden, ausgelöscht durch diesen einen Satz.
    »Du hast sogar gesagt, dass du mich liebst«, fügte sie hinzu, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
    Pater David taumelte. Er klammerte sich am Türpfosten fest, ohne die Splitter zu spüren, die sich in seine Haut bohrten. Er wollte leugnen, wusste jedoch schon, bevor er seine Einwendungen auch nur formulieren konnte, dass sie vergeblich wären. Das letzte Bollwerk seines Gedächtnisses gab nach, und wie er plötzlich seinen nackten Körper sah, der sich zwischen den Schenkeln dieser Frau bewegte, wurde ihm ganz schlecht. Unter der durchnässten Tunika erkannte er die Kurven, die er begehrt hatte, die Brust, in die er gebissen hatte. Der süßsaure Geschmack ihres Schweißes, ihres Geschlechts erfüllte seinen Mund, wie wenn dieses nächtliche Abenteuer gestern stattgefunden hätte.
    Er war von jeher der Meinung gewesen, dass das Gelübde der Ehelosigkeit eines Priesters nicht Keuschheit bedeutete. Doch hatte eine unbegründete Angst ihn davon abgehalten, all den Regungen seines Triebes nachzugeben. Er fühlte sich so wie ein verheirateter Mann, der versucht ist, seine Frau zu betrügen, den jedoch an der Schwelle seines Hotelzimmers etwas zurückhält.
    Nur fünf Mal war sein Verlangen stärker gewesen als diese irrationale Angst davor, die Regeln der Kirche zu übertreten. Und die fünfte Versuchung, der er erlegen war, stand jetzt vor ihm, und sie war anders als das verschwommene Bild, das er von ihr behalten hatte. Ihr schien jene Aura abzugehen, die ihn verwirrt hatte, als er sich, schon recht betrunken – so sehr, dass er sogar wieder ins weltliche Leben hatte zurückkehren wollen – , auf die Theke einer Bar in Lagos gelehnt und sie erblickt hatte, allein und genauso verloren wie er. In einem schäbigen Separee, das von dem schwachen rosa Licht einer Neonröhre kaum erhellt worden war, hatte er ihr gegenüber Platz genommen, und einige Stunden später hatten sie sich unter den schmutzigen Laken einer Dachkammer wiedergefunden – ohne dass er genau wusste, wie sie dorthin
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