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Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)

Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)

Titel: Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Autoren: Greg Smith
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reduziert. Ich hatte es gründlich durchdacht. Alles, was ich an jenem Tag hätte sagen können, hätte von der eigentlichen Aussage abgelenkt. Ich war stolz und aufgewühlt, weil ich mein Scherflein zur Debatte über verantwortungsloses Verhalten und Interessenkonflikte in der Finanzindustrie beigetragen hatte – einer Debatte, die meines Erachtens in der Öffentlichkeit unbedingt geführt werden musste. Angesichts des Medienrummels war es ausgesprochen tröstlich, dass ich nach meiner Ankunft in New York erst einmal bei einem guten Freund unterkommen konnte.
    Als ich aus dem Taxi stieg und mein Gepäck an mich nahm, kam der junge Portier von Phils Wohnanlage heraus, um mir zu helfen. Plötzlich strahlte er übers ganze Gesicht und begrüßte mich überschwänglich.
    «Sie sind doch Greg Smith, oder?», fragte er. Ich war einigermaßen schockiert, dass er mich erkannte. Ich hatte den ganzen Tag über im Flieger aus London gesessen und deshalb nicht mitbekommen, wie viel Aufmerksamkeit mein Artikel erregt hatte.
    «Willkommen in New York», begrüßte er mich herzlich. «Sie sollen wissen, dass Sie hier viel Rückhalt haben. Einfache Bürger wie ich stehen hinter Ihnen – und danken Ihnen, dass Sie sich zum Sprachrohr für uns machen.» Was er sagte, rührte und beschämte mich. Während ich in Phils Vorkriegshaus auf den Fahrstuhl wartete, versuchte ich die Tragweite seiner Äußerungen zu begreifen. Dann bestieg ich die Aufzugskabine und freute mich auf das Wiedersehen mit meinem Freund.
    Der Portier hieß Kelvin und war ein junger Afroamerikaner Anfang zwanzig, der selbst in die Finanzbranche einsteigen wollte. Er jobbte in Phils Wohnanlage, um die Abendschule zu bezahlen und seine Familie zu unterstützen. Die Finanzwelt interessierte ihn sehr. Er betrachtete sie sehr idealistisch. Er war fasziniert von den Aktienmärkten – von den Kräften, die sie nach oben oder unten trieben, von der Bewertung von Unternehmen und von den Komplexitäten einer Bilanz.
    In den drei Wochen, die ich bei Phil auf der Luftmatratze schlief, unterhielt ich mich jedes Mal mit Kelvin, wenn ich das Gebäude betrat oder verließ. Wir redeten über die Fachbücher, die er lesen sollte, über die besten Wirtschaftsblätter und darüber, wie er sich optimale Voraussetzungen für seinen Einstieg in die Finanzwirtschaft schaffen konnte.
    Kelvin führte mir vor Augen, was mich ursprünglich in diese Branche gezogen hatte und auch warum sich jemand überhaupt für irgendetwas entscheiden sollte – nämlich weil er davon begeistert ist. Ich wünsche ihm, dass er im Finanzwesen seinen Weg macht. Ich hoffe, er wird nicht enttäuscht. Denn wir brauchen Menschen wie Kelvin.
     
    In Bezug auf die Finanzindustrie herrscht in breiten Bevölkerungsschichten die irrige Meinung vor, dass es an der Wall Street nur um die Elite geht, um Reiche, denen es recht geschieht, wenn sie ihr Geld verlieren, und dass der Normalbürger von den Eskapaden und fragwürdigen Praktiken der Branche im Grunde nicht betroffen ist. Die Wahrheit sieht leider anders aus.
    Wenn die Chefs von Wall-Street-Unternehmen vor den Kongress gezerrt werden – wie Lloyd Blankfein im Zuge der Betrugsvorwürfe der SEC gegen Goldman Sachs oder Jamie Dimon, nachdem JPMorgan Chase mit dubiosen Geschäften 6 Milliarden US-Dollar in den Sand gesetzt hatte –, kommen sie gern mit dem Spruch: «We are all big boys.» Meint: Wir sind doch alle seriöse institutionelle Anleger. Wir wissen doch alle, was wir tun. Und vor allem: Wir treten doch alle zu den gleichen Bedingungen an.
    Aber überlegen wir mal: Wessen Geld steht denn in Wirklichkeit auf dem Spiel?
    Nehmen wir nur die letzten Skandale: Wer zahlt die Zeche, wenn ein Bezirk im US-Bundesstaat Alabama mit JPMorgan Geschäfte mit strukturierten Derivaten macht, wenn die Sache nach hinten losgeht und den kommunalen Haushalt an den Rand des Bankrotts führt? Wer muss bluten, wenn eine Regierung in Griechenland oder Italien mit Goldman Sachs oder JPMorgan Derivategeschäfte abschließt, um Schulden zu verschleiern und Probleme hinauszuschieben? Wer muss am Ende dafür büßen, wenn Morgan Stanley den Facebook-Börsengang falsch bewertet und Investmentfonds Milliarden von Dollar verlieren, die für die Alterssicherung angespart wurden? Genau: der Normalbürger.
    Wer bekommt es zu spüren, wenn ein Staat wie Libyen mit Derivaten Milliarden Dollar verzockt, die eigentlich dem libyschen Volk gehören? Wer verliert, wenn Barclays und andere
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