Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit
Autoren: David Vann
Vom Netzwerk:
Tochter, ein von den Ursprüngen losgelöstes Leben, ein Leben ohne jede Verbindung zu Irene. Dieses Leben hätte nicht stattfinden dürfen, nicht erlaubt sein dürfen.
    Irene hatte wieder die ganze Nacht allein wach gelegen, und in den ersten Stunden hatte sie geweint, gegen Gary gewütet, gegen die Ungerechtigkeit, wollte bestrafen, eigentlich aber ihm näherkommen. Wollte mit ihm weitermachen, so falsch es war. Sie hatte versucht, einen Weg zurückzufinden, doch schließlich hatte sie sich beruhigt und erkannt, dass es keinen Weg zurück gab. Er liebte sie nicht und hatte sie nie geliebt, aber ihr Leben hatte er trotzdem benutzt. Das war die Wahrheit, und nichts, was er tat, konnte das ändern. Es stand nicht in ihrer Macht. Ihr Kopf hatte sich angefühlt wie ein Vakuum, verwehtes Nichts in ihr, das dort über Stunden lag und auf Tageslicht wartete, und endlich dieses Hochgefühl, ein Geschenk, ein letztes Geschenk. Es fühlte sich beinahe an, als würde der Schmerz vergehen, der sie noch immer bedrängte, noch immer auf sie drückte, doch wegzugehen versprach.
    Ein Weg über knackende Zweige, schnell hügelab jetzt, zu schnell, um irgendetwas wiederzuerkennen. Sie hatte diesen Wald gekannt, und würde sie ihren Schritt verlangsamen, könnte sie Zeichen finden, den Eisenhut erkennen, seine lila Blüte, das Gewicht der sich beugenden Blume, aber sie lief zu schnell, rannte, hielt jetzt nicht mehr an und machte sich nicht die Mühe, sich mit den Armen zu schützen. Sollten die Zweige ihr das Gesicht zerkratzen.
    Schritte in Schnee und Moos, brennende Haut an Händen, Gesicht und Hals, der kalte, bedeckte Himmel über ihr, und ihr Körper konnte sich von selbst zwischen den Bäumen durchschlängeln. Irene, etwas, dasIrene genannt werden konnte, entrückt, still. Näherte sich der Hütte, die Beine langsamer, Schritttempo, dann noch langsamer, jagend, wie sie einst mit Gary gejagt hatte, lautlos, jetzt wich sie den Zweigen aus, bog sie vorsichtig beiseite, ohne sie zu brechen. Schließlich war sie zwischen den Zelten, direkt hinter der Hütte. Still, auf jede Regung lauschend, jeden Laut, ohne etwas zu hören außer einer leichten Brise und den kleinen Wellen am Strand. Wasser und Luft, und Blut, das jetzt schneller pulsierte. Er würde nicht in den Zelten sein. Er würde in der Hütte sein oder am Strand. Irene zog einen Pfeil heraus, legte ihn in die Führung, schwarzer Bogen, schwarzer Pfeil auf weißem Schnee, und ging leise zur Tür der Hütte.
    Der Türrahmen neu und außen angebracht, weiß und deplatziert auf den Baumstämmen. Müllbeutel und Konservenpaletten überall. Näher, bis sie fast an der Schwelle war, und noch immer hörte sie nichts. Die Hütte wirkte jetzt größer, die Rückwand hoch. Raue Borke, Lücken, einige Stämme, die weiter herausragten als andere. Ihr war bisher nicht aufgefallen, wie uneben sie war, die Oberfläche, Täler und Hügel, eine hochkant gestellte Landschaft. Sie wartete an der Schwelle, damit sich die Augen gewöhnen konnten, dunkler in der Hütte, aber genügend Licht durch Fenster und Lücken, um den Sperrholzboden zu sehen. Das Fenster selbst noch nicht in Sicht, weiter zur Rechten, hinter der Tür. Ein trüber Raum und kein Zeichen von Gary.
    Irene trat ein, Bogen erhoben, bereit.
    Irene?, fragte Gary. Er saß anderthalb Meter von ihrentfernt, auf einem Tritt am Fenster. Strahlte vor Erleichterung, die Furchen in seinem Gesicht. Alt. Was machst du da, Irene?
    Sie trat zurück. Schwieriger jetzt, da sie hier war und er mit ihr redete. Er stand auf, Hände zu ihr geöffnet, Finger in diesem Licht überdeutlich. Irene, sagte er.
    Sie zog den Pfeil dicht an ihre Wange.
    Ich liebe dich, Irene, sagte er, und auf einmal war es wieder leicht. Sie ließ den Pfeil fliegen, sah, wie er in seiner Brust verschwand. Nur die schwarzen Federn ragten aus seiner Jacke. Er wurde zur Seite gewirbelt, sah auf seine Brust und fiel mit dem Gesicht voran zu Boden. Pfeilspitze und Schaft staken in die Luft.
    Gary am Weinen. Oder Schreien. Ein Laut über dem Pochen in Irenes Kopf. Sie ging näher heran und zückte ihren letzten Pfeil. Seine Beine und Arme bewegten sich, zogen ihn über den Fußboden zur Wand. Und was würde er an der Wand vorfinden? Sie zog den Pfeil an die Wange, zielte auf seinen Rücken und ließ den nächsten Pfeil fliegen. Noch ein Schrei von Gary, der Pfeil so schnell, dass er nicht zu sehen war. Einfach plötzlich da, hoch aufragend. Aber er hatte ihn an den Boden genagelt.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher