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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit
Autoren: David Vann
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Jetzt konnte er nicht mehr kriechen. Arme und Beine noch in Bewegung, ohne irgendwo anzukommen. Noch immer nicht tot, und sie hatte keine Pfeile mehr. Sein Schreien tiefer, etwas, das nicht menschlich klang. Irene ließ den Bogen fallen und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie stand da und wartete darauf, dass er starb, aber er starb nicht. Ein fürchterlicher Tierlaut,der letzte Laut, den ein Lebewesen von sich gibt. Ihr Mann. Gary.
    Irene ging hinaus, ging hinunter zum Strand. Der See eine Vergrößerung des Himmels, weiß und bedeckt, kalt. Irene war heiß, als könnte sie durch Wasser und Himmel und Schnee sengen, durch Felsen gar. Sie war eine Riesin, machtvoll, imstande, Berge zu zerquetschen und Seen mit bloßen Händen auszuschaufeln. Ging am Ufer entlang, und dies war ihr Ufer. Spürte den Wind nicht. Spürte den Drang zu rennen, also rannte sie wieder, rannte schneller als je zuvor, die unebenen Steine und Tümpel und Büschel gar nichts. Sie war trittsicher. Die Welt war nie wirklich gewesen. Es gab keine Schwerkraft, nichts, was sie bremsen oder aufhalten konnte. Sie rannte, wie es der Kopf wollte, die Welt eine Erweiterung ihrer selbst. Die Wellen, das Gras, der Schnee, alles im Einklang geschaffen.
    Dann aber musste sie ihr Tempo drosseln, wurde irgendwie müde. Ging weiter, bis ganz an die gegenüberliegende Spitze, nahe Frying Pan Island, blickte auf ihr Ufer. Spürte den Drang, hinüberzuschwimmen, das Wasser zu überqueren, diese Insel zu verlassen, aber etwas hielt sie zurück. Sie hatte noch was zu erledigen. Sie war noch nicht fertig. Sie drehte sich um und ging zur Hütte zurück.
    Die Hochstimmung würde sie verlassen, das wusste sie. Sie war ein Geschenk, aber nur ein vorübergehendes. Irene spürte, wie sie dünner wurde, sich verflüchtigte. Rannte wieder, versuchte, sie zurückzugewinnen. Ihre Füße nachlässig auf den Steinen, umknickendeKnöchel. Bodenkontakt jetzt, hart und unnachgiebig, kein Schweben mehr, nicht mehr trittsicher. Sie kehrte zu Schritttempo zurück.
    Die Bergspitzen außer Sicht, die Gipfel, die breiten Kars. Nur die Flanken über der Wolkenlinie. Sie wollte über diese Berge. Der See hätte zugefroren sein sollen wie in ihrer Vision. Sie würde hinübergehen und den Berg besteigen. So hätte es sein sollen. Was sie getan hatte, hätte später passieren sollen, mitten im Winter. Aber wie hätte sie bis dahin warten können?
    Eisschollen überall am Rand, von Wellen gebrochen. Kleine Tümpel, inzwischen opak. Dunkle Felsen feucht vor Nebel oder Gischt. Dieser schmale Streifen, Saum zwischen Wasser und Erde. Diese Zeit, die sie jetzt hatte, diese kurze Zeit, in der alles möglich war, vielleicht, in der ihr Leben alles sein konnte, aber sie wusste, dass es nur eine Möglichkeit gab.
    Als sie das Boot erreichte, machte sie die Leine los. Dickes Tau, kräftig, zehn Meter, mehr als genug. Sie ging zur Hütte hinauf, und jetzt ging sie langsam. Etwas in ihr wollte nicht gehen.
    Erlenzweige, die sie streiften, das letzte Mal auf dem Weg, der beinahe ein Pfad geworden war, das Unterholz von ihnen hinuntergetreten. Ein Ort, der nie ihr Zuhause werden sollte, ein Ort, der von Anfang an zu ihrem Ende auserkoren war. Und sie hatte mitgemacht, obwohl sie es wusste. Hatte Gary es gewusst?
    Als sie wieder über ihm stand, war er still, bewegte sich nicht mehr. Keiner dieser Laute mehr. Die sie nichthören wollte. Aber jetzt war es friedlich. Er war ruhig, ruhte mit dem Gesicht nach unten.
    Irene stellte den Tritt auf die andere Seite der Hütte, auf Armeslänge von der Seitenwand entfernt. Langte hinauf und schob das Seil über einen Balken. Die Aluminiumbleche fest, aber sie konnte es durchzwängen, so weit ziehen, dass sie eine Schlinge machen konnte. Nicht sicher, wie man den Knoten band. Hatte sich nicht angesehen, wie ihre Mutter ihn gebunden hatte. In Filmen war es ein großer Knoten mit vielen Windungen, also wickelte und band sie Halbsteke, wie Gary sie ihr fürs Boot gezeigt hatte. Es sah nicht richtig aus, würde aber ausreichen.
    Irene schlug zu beiden Seiten des Balkens einen Nagel ein, als Seilführung, damit es nicht abrutschte, stapelte Endstücke der Balken auf dem Tritt, damit sie höher stand und tiefer fiel. Sie stellte sich auf den Stapel, sehr wacklig, legte sich die Schlinge um den Hals und zog sie fest, dann wurde ihr klar, dass sie Spiel haben musste, um zuzuschnappen. Also stieg sie vorsichtig hinunter, nahm auf der untersten Stufe Maß und zog das Seil
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