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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit
Autoren: David Vann
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Platz für sie in Garys Traum. Er rauchte Pfeife, hier am Fenster, mit Blick aufs Wasser, und er war allein in der Wildnis. Genau das wollte er. Genau das hatte er immer gewollt.

D ie Insel war nicht für Irene gemacht. Die Bäume zu dicht, zu gedrängt. Stämme höchstens dreißig Zentimeter dick, ein Meter Platz zwischen ihnen, gefüllt mit niedrigen toten Ästen, die sich zu Boden bogen, spröde und dürr und zerbrechlich. Niemals ein offener Raum, niemals die Gelegenheit, zu laufen und über Grate und Täler zu blicken. Wenn sie einen Elch fand, wäre sie nah genug dran, um sein Fell zu berühren. Ihr Bogen unnötig. Ständig im Geäst verheddert. Sie musste ihn immer wieder mit einem Ruck losmachen. Sie ging schnell, mit einem Schritt, der beinahe ein Rennen war. Und das war ihre Bestimmung, sie war eine, die durch Schnee und Wald eilte oder rannte. Eine offenere Landschaft vielleicht, aber dieselbe Kälte, derselbe Schnee. Unzählige Generationen vor ihr.
    Sie drückte den Bogen an sich, damit er nicht mehr hängen blieb. War beschwingt. Auf jede Regung achtend, dem Wald lauschend, über das eigene Laufen und Scharren hinaus. Mächtig pulsierte Blut in den Adern, warf ein Echo in den Wald hinaus, eine Art Sonar. Nichts konnte sich vor ihr verbergen.
    Sie blieb stehen, brachte sich in Positur, hob den Bogen und zückte einen Pfeil. Zog kräftig gegen den Flaschenzug, spürte, wie sich die Rollen drehten und der Zug leichter wurde, hielt den Pfeil dicht an ihre Wangeund nahm entlang der scharfen Flügel den Stamm einer Pappel zwanzig Meter entfernt ins Visier. Ließ den Pfeil fliegen, der Rückstoß eine Erleichterung, und der Pfeil bohrte sich tief in den Stamm. Der Flug so schnell, dass er sofort Erinnerung war, etwas, das man nicht erleben konnte, sondern nur im Nachhinein erkennen. Irene rannte zur Pappel, untersuchte den Pfeil, der tief im Fleisch des Baumes steckte, vier hellere Schlitze in der Borke, beinahe unsichtbar, die vom Pfahl abstrahlten, und wenn sie in diese Schlitze spähte, konnte sie gerade noch die hinteren Flügelspitzen sehen. Ausgeschlossen, dass sie diesen Pfeil herausbekam, also drückte sie den Bogen wieder an sich und lief weiter.
    Erschöpfung. Genau das wollte sie. Sie wollte laufen, bis sie nicht mehr laufen konnte. Doch sie bezog ihre Kraft jetzt woanders her, nicht aus Muskeln und Blut. Sie ermüdete nicht. Sie lief bis zum Ufer auf der anderen Seite der Insel, trat hinaus auf das Gras und den steinigen Strand und sah Frying Pan Island, die anmutige Rundung, zückte einen Pfeil, zielte hoch und ließ ihn in einen anderen Wald segeln. Ging am Wasser entlang und jagte größere Steine und Schatten von Spiegelungen und Eis, zückte den nächsten Pfeil und durchbrach damit die Oberfläche. Verschwunden, von Kräuselungen verborgen, und sie meinte, die Spitze auf Fels treffen zu hören, war sich aber nicht sicher, vielleicht war es bloß Einbildung.
    Zwei Pfeile übrig, und die würde sie aufheben. Sie brauchte wieder Bäume, eilte zurück in die Deckung, jagte Moosbeete, von einem zum nächsten, Hügelhinauf und in Täler hinab, über Grate hinweg. Alles eingeschlossen, Bäume zu dicht. Sie war von der Schwerkraft befreit, wurde über Hügel gehoben, brach durchs kratzende Dickicht. Sie war seit mehr Stunden wach, als sich zählen ließ, und das gab ihr eine neue Kraft, die Schritte leicht im Schnee, die Luft etwas, das sie vorwärts zog. Und ihr war, als würde die gesamte Insel rollen, sich langsam umdrehen, kentern. Irene musste die Füße schnell bewegen, um aufrecht zu bleiben. Die Insel vor langer Zeit am Seegrund geboren, emporgestiegen auf einem Strunk, und dieser Strunk war jetzt gekappt, und die Insel bekam Schlagseite, die steinigen Hügel, die Bäume, und sie würde herumrollen, bis die glatte Unterseite nach oben zeigte, nass und dunkel und seit Tausenden von Jahren nur dem See bekannt, dem Himmel neu. Was würde dann passieren? Aber dann wäre Irene nicht mehr da.
    Ursprünge. Das war das Problem. Wenn wir nicht wissen, wo wir angefangen haben, können wir nicht wissen, wo wir enden oder wie. Verloren, die ganze Zeit schon. In Garys Leben hineingezogen, das falsche Leben.
    Ganz sicher aber wusste Irene, dass dies kein Anfang war. Man würde nicht wiederhergestellt. Und sie würde Gary mitnehmen. Das war der Fehler ihrer Mutter gewesen, sie hatte das versäumt. Es war ungerecht, dass Irenes Vater irgendwo ein anderes Leben führte, ein Leben ohne seine Frau und seine
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