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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit
Autoren: David Vann
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stramm. Rau am Hals, feucht. Das freie Ende musste sie irgendwo sicher anbinden.
    Irene blickte sich um und fand nichts. Keine Verankerung und keinen Pfosten, der stark genug war. Aber dann sah sie Gary und dachte an etwas Wunderschönes. Sie band das Ende um seinen Oberkörper. Musste seinen Kopf anheben und eine Schulter und dann die andere. Sie konnte ihn riechen, der Darm hatte sich entleert, als er starb. Außerdem Blutgeruch. All das verstärkteirgendwie den Druck in ihrem Kopf. Der hatte verschwinden wollen, was er aber nicht getan hatte. Ein stechender Schmerz, und der machte ihre Arbeit noch dringlicher. Sie band das Seil fest um ihn, knotete es zu. Die Pfeile würden es am Rutschen hindern.
    Und dann musste sie wieder raus. Die Gerüche zu stark, der Schmerz in ihrem Kopf. Sie wusste nicht, ob sie das durchziehen konnte. Eigentlich war es zu viel. Sich selbst wie ein Tier zur Schlachtbank zu führen. Sie wusste nicht, wie ihre Mutter das geschafft hatte. Obwohl es so viel weniger ausweglos gewesen war. Obwohl sie keinen Mord begangen hatte. Irene blieb keine Wahl, aber ihre Mutter hatte immer noch die Wahl gehabt. Wie hatte sie es geschafft?
    Irene ging in den Wald. Die dichte Deckung jetzt ein Trost, verborgen. Sie wanderte ziellos zwischen den Stämmen, folgte Moosflecken, die durch den Schnee spitzten, der Schnee dünn und leicht, an manchen Stellen nur ein Hauch, von Ästen abgehalten. Sie legte sich auf ein großes Moosbeet, rollte sich seitlich ein. Von nahem, wie in einem Miniaturwald, jeder Halm so groß und erhaben wie eine Fichte und vollkommener geformt. Nicht schief oder unförmig, sondern symmetrisch mit Astlagen wie bei einem Baum und in diesem kleineren Maßstab der Schwerkraft trotzend, die Astspitzen ungebeugt. Hunderte aufragender Miniaturbäume. Sie streckte die Hand nach einem aus, schob ihn zur Seite, und er federte zurück. Sie riss ihn am Fuß aus, riss seine Nachbarn aus, fällte einen Wald.
    Stand wieder auf und lief weiter zwischen denBäumen, wusste aber nicht, wo sie hinging oder was sie tat. Kehrte in einem Bogen zur Hütte zurück und blieb stehen, als sie aus dem Wald trat, blickte auf die Zelte und die Hütte, den Kocher, der zwischen ihnen stand. Ihr Lager. Ihr Mann tot. Eine Mörderin. Als solche würde sie fortan bekannt sein. Tochter, Vorschullehrerin, Ehefrau, Mutter, Mörderin, Selbstmörderin. Die früheren würde man vergessen. Nur die beiden letzten in Erinnerung behalten. Sie ging zur Tür, trat ein und hielt die Luft an. Ging zum Tritt und dem Seil, schob den Hals in die Schlinge und zog sie mit dem Kinn fest, spitzte einen Zeh gen Boden, um zu prüfen, ob sie aufkommen würde. Es musste Luft darunter sein. Es brachte nichts, wenn sie aufkam.
    Mit beiden Händen streckte sie sich, um das Seil zu halten, ließ sich hängen, spitzte die Zehen und kam nicht auf. Schwang in der Luft und hatte Mühe, zum Tritt zurückzukommen, geriet kurz in Panik, dass sie so stecken bleiben könnte, ohne richtig zu hängen. Doch sie erwischte den Tritt, befreite den Hals und legte dann die Balkenstücke auf die oberste Stufe, drei Lagen, genug für einen ordentlichen Fall.
    Mit der Schlinge in der Hand stieg sie vorsichtig auf die Balkenstücke. Hielt sich dort und legte die Schlinge um ihren Hals. Besorgt allerdings, dass sie die Hände benutzen könnte. Wie schaffte man es, nicht nach dem Seil zu greifen, selbst während des Falls? Unmöglich, diesen Instinkt zu unterdrücken.
    Also nahm Irene erneut die Schlinge ab, stieg vorsichtig hinunter, ging hinaus zu Garys Zelt mit demWerkzeug und fand ein Klappmesser. Kehrte zur Hütte zurück und stellte sich zu Gary, fand das lose Ende des Seils, das sie um seine Brust gebunden hatte, schnitt ein paar Handbreit ab, ließ das Messer fallen und band ein Ende um ihr Handgelenk.
    Das hätte nicht so mühsam sein dürfen. Keine Würde im Leben, jemals. Selbst der eigene Tod von kruden Dingen unterbrochen, kleinlichen Bedenken. Das war nicht gut. Und der Schmerz war nicht weg. Es hatte sich so angefühlt, aber er war nicht weggegangen. Man sollte meinen, es sei genug passiert, um ihn zu verscheuchen. Irene stieg jetzt wütend auf den Tritt, legte sich die Schlinge wieder um den Hals, kletterte auf die losen Balkenstücke, wacklig und kurz vorm Runterfallen, und führte ganz vorsichtig das Seilende von ihrem Handgelenk zwischen die Beine und band es ans andere Handgelenk. Schwierig, einen richtigen Knoten zu binden, aber sie versuchte ihn
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