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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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den Rucksack aus, legt jedes Stück auf die Kirchenbank und entdeckt, daß er größtenteils nur wirres, nutzloses Zeugs mitgenommen hat: die alte Taschenlampe hat ihm zwar Dienste geleistet, doch sie hat ohnehin in einer Seitentasche gesteckt. Das kleine Kissen, das er im Schlaf zwischen seine Knie nimmt, die Monographie über Georg Philipp Telemanns Frankfurter Jahre, die ausgetretenen Sandalen, die aktuelle Radiozeitschrift und die Musikkassetten, für die er nicht einmal einen Recorder mithat, das kommt ihm vor wie das Gepäck eines aus einem Heim Entsprungenen. Zum Schluß sammelt er ein paar jadegrüne Styroporflocken aus dem Rucksack. Sie sind wie wunderliche Fossilien, und er begreift: er hat keine Zahnbürste mit, kein Handtuch, keine trockene Wäsche.
    In der Seitentasche findet er das Taschenmesser, öffnet es und prüft die Klinge mit der Kuppe seines Daumens. Wohl tausend Mal geschliffen und immer noch schärfer als an dem Tag, an dem sein Vater es dem Engländer aus der Brusttasche gezogen hatte, der Anfang der Vierziger mit seiner Spitfire ohne Not in das Watt gejagt war, ohne Feuer der Flakstellungen, die oben bei Rysum und unten in den südlichen Poldern standen und an diesem frühen Herbstmorgen wohl kaum besetzt waren.
    Zwei gemütliche Schleifen hatte die Maschine über dem Dollart gezogen, als suchte der Tommy den passenden Fleck für sein Grab. Der alte van Steen, der damals gerade mal sechzehn, siebzehn Jahre alt war, duckte sich in das Schilf, ungefähr da, wo die Ems zum Dollart wird, beobachtete die Kapriolen des Jagdfliegers mit Bewunderung und Entsetzen, dachte noch an eine List, ein Ablenkungsmanöver oder dergleichen, als der Engländer den Flieger in einen Winkel stellte, unter dem man vielleicht noch eine Notlandung hätte versuchen können, auf das Ufer zuraste und im letzten Moment die Nase kräftig nach vorn und unten drückte. Die Maschine zischte mit einem merkwürdigen Geräusch ins Watt, keine hundert Meter von Fokkos Vater entfernt. Als wenn man einen Spaten in den Schlick schlägt, dachte der und rannte los.
    Wie ein Pflock steckte die Maschine im Modder, kaum versehrt, vielleicht um ein Stück verkürzt durch den gewaltigen Aufprall. Der Junge fürchtete, den Flieger hochgehen zu sehen wie eine Granate, in der klammfeuchten Dämmerung aber hatte kein Funke eine Chance. Die Kapsel war aufgesprungen, und der Pilot lag über die Instrumente gebeugt, als wäre er über die Reise von England her eingeschlafen.
    Fokko klappt das Messer zu, steckt es in die Seitentasche und räumt seine Sachen in den Rucksack zurück. Er hat wohl überstürzt gepackt, so kommt es ihm vor, aber das ist nun nicht weiter wichtig, er wird in die Wohnung zurückkehren, unter Evas Decke kriechen, als wäre er niemals weggewesen, als hätte er einen bösen Traum geträumt von der Nacht in einem Container und der todeskalten Frühmesse im Dom.
    Der Gottesdienst ist zu Ende. Der Geistliche hat den alten Frauen seinen Segen gegeben und ist auf dem Weg zurück in die Sakristei. Die Viertelstundenglocke schlägt zweimal. Es ist halb acht. Viel zu früh, um unter Evas Decke zu kriechen, sie würde ihn sofort wieder davonjagen, er muß einen Zeitpunkt abwarten, da sie dem Erwachen nahe ist, er muß das Frühstück fertig haben, erwärmte Milch für den Kaffee, Honig und Toast, oder am besten frische Brötchen am Neujahrsmorgen.
    Der Hunger, der sich in ihm regt, nährt seine Phantasie, unversehens erscheint in seinem Kopf ein Stadtplan, auf dem alle Bäckereien, Kioske und Backstuben erleuchtet sind, und ihm fällt ein, nicht weit entfernt, im Hasetorbahnhof, gibt es eine Bäckerei, wahrscheinlich ist sie aber am Neujahrstag nicht geöffnet. Also wird er gleich zu Dick gehen, da kann er sich aufwärmen, so lange er will, da kann er zur Not den Backautomaten selber einstellen und sich die Brötchen aussuchen.
    Ein Schatten fällt in den Altarraum, und ein wenig später streicht der Geruch gelöschter Kerzen heran. Die Frauen schlurfen aus dem Gotteshaus, der Meßdiener hantiert am Altar und von irgendwoher ist das Gurren einer Taube zu hören. Ohne Eile schlüpft er in seine klammen Socken, schnürt sich die Stiefel und wirft sich den Parka über. Dann geht er still den Weg, den er gekommen ist und tritt aus der Seitenpforte ins Freie. Der Regen hat aufgehört. Aber ein kalter Wind geht über den Domplatz, spielt noch immer mit der Lampe im Eingang des Bischofhauses, verfängt sich in den dürren Kronen der
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