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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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seiner Stirn die letzten Regentropfen fort. Ihre Hand legt sich unversehens auf seine Schulter.
    »Probleme, Fokko?«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Ich mach uns Kaffee und Brötchen, du besorgst den Rest.«
    »Gute Idee.« Er humpelt barfuß los, bevor er aber im Nebenraum verschwindet, wirft er einen verstohlenen Blick auf die Uhr: es ist etwa Viertel nach acht. Klarer Fall. Es ist der Neujahrsmorgen, und diese Tankstelle ist sein Arbeitsplatz. Sie nennen die kleine Bude mit einem Tisch und zwei Stühlen, einem Kühlschrank, Dicks Spint und einem Metallregal voller Autoteile und öliger Werkzeuge spöttisch ihren Sozialraum. Auf dem Tisch liegt die Zeitung von gestern, Annas blutroter Lackmantel hängt an einem Haken mit Dicks Overall vereint, und von der Wand über dem Waschbecken grinst wie jeden Tag und jede Stunde die nackte Schönheit herüber, die auf dem Kotflügel des Sportwagens hockt, als müßte sie ein besonderes Geschäft erledigen, dabei macht sie nur seit März irgend eines längst verschimmelten Jahres für Stoßdämpfer Reklame. Eine Aushilfe hat ihr mit Kaugummi und zwei Kronkorken die Brustwarzen versilbert.
    In Dicks Spint findet er ein paar Wollsocken. Er streift sie über, eine angenehme Wärme zieht unverzüglich in seinen Körper hoch und rettet ihm das Leben. Er wischt den Tisch sauber, stellt Teller, Becher, das Zuckerfaß und Besteck zurecht. Im Kühlschrank findet er ein Glas Honig, Käse in Plastik, eine angeschnittene Salami und eine Tomate, die er ohne nachzudenken in den Mülleimer wirft. Der Geruch von Kaffee und frischen Brötchen zieht herein, er setzt sich an den Tisch und schlägt die Zeitung auf, die für den nächsten Tag ein neues Jahr verspricht. Es gibt keine Nachrichten mehr, denkt er, alles wiederholt sich zum unendlichsten Male. Auf einer Doppelseite finden sich an die hundert Porträtfotos von Politikern, Künstlern und sonstig wichtigen Menschen, deren Gemeinsamkeit sich in ihrer Prominenz findet, und darin, daß sie als Die Toten des vergangenen Jahres   in einer Art Hitliste versammelt sind. Es ist eine Erinnerung an einen Ruhm, der nun verwest wie die schönen öffentlichen Körper.
    Anna bringt die Brötchen und den Kaffee.
    »Wer so alles gestorben ist letztes Jahr«, sagt Fokko und schüttelt den Kopf.
    »Hab ich gesehen. Mancher ist dabei, von dem ich gedacht habe, daß er längst tot ist. Von anderen habe ich geglaubt, daß sie noch leben.«
    »Bleibt nicht viel am Ende«, sagt er. Der erste Schluck Kaffee durchströmt seinen Körper, und als er auf diversen Irrwegen in Dicks Socken angekommen ist, empfindet Fokko sich endlich wieder als Ganzes, alle Organe an ihrem Platz, das Bewußtsein sauber aufgeräumt und ein Hunger, der ihm Spaß macht. Nur das Gedächtnis klebt ihm noch recht zäh im Kopf, die Erinnerungen schmelzen wie die Margarine auf den warmen Brötchen, aber er kennt das, alles wird wiederkehren, ob es ihm nun lieb ist oder nicht.
    Mit Eva frühstückt er eigentlich nie gemeinsam. Das liegt an ihren Arbeitszeiten. Wenn er morgens aufsteht, steckt sie in ihrer ersten Tiefschlafphase. Er überlegt, ob er Anna die Geschichte aus dem Container erzählen soll. Und von Eva. Lieber später, er hat das alles selbst noch nicht begriffen.
    »Was macht Leo?« fragt er.
    »Gut.« Sie nimmt den Kaffeebecher in beide Hände wie eine Opfergabe. »Neulich ist er beinahe gestorben.« Und sie erzählt von einem Erstickungsanfall, völlig unmotiviert, von einer Sekunde auf die andere, das Kind habe plötzlich aufgehört zu atmen, sie selbst sei nur zufällig in der Nähe gewesen und habe dieses Geräusch gehört.
    »Welches Geräusch?« fragt Fokko.
    Sie antwortet mit einem Achselzucken. Nippt vorsichtig am Kaffee, nimmt einen kleinen Schluck und setzt den Becher auf den Tisch zurück. »Das Geräusch, das entsteht, wenn jemand aufhört zu atmen.«
    »Stille also.«
    »Ja, nein«, sagt sie und nimmt sich ein Brötchen. »Stille ist es nicht. Es ist entsetzlich. Es ist, als würde die Welt plötzlich anhalten, und ich allein lebe weiter.«
    »Was hast du gemacht?«
    »Nichts Vernünftiges und vermutlich das einzig Richtige. In seinen Augen sah ich nichts als ein ungläubiges Staunen, daß er mich schon wieder verlassen sollte, wo er doch erst ein paar Wochen bei mir ist. Ich habe ihn an den Füßen gepackt, hochgehalten, ihm auf den Rücken geschlagen und ihn gerufen – zurückgerufen, gewissermaßen.«
    »Und dann…«
    »Dann war er wieder da. Japste, schrie sich
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