Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
Vom Netzwerk:
Körperlichkeit verabschieden, eine neue Zurückhaltung einüben, eine Form respektvoller Distanz.
    »Haste mal ne Zigarette?«
    »Rauchst du wieder?«
    Sie nickt und wischt die Tränen fort. Blöde Frage, denkt er, steht auf und kramt in seinem Parka. In der Tasche mit dem Tabak findet er den Schatz aus dem Container, die Büchse der Pandora, legt sie zwischen die Teller auf den Tisch und dreht Zigaretten für sie beide. Das Rauchen macht ihm Durst, er holt eine Flasche Wasser aus der Kühlung und erinnert sich an den großen Schwamm, wie er das Bier nimmt und es fertigbringt, die Gesellschaft für diesen Augenblick an seine Bewegungen zu ketten. Eva war da, damals ein sehr junges Mädchen, hübsch sowieso, aber was ihn fasziniert hatte, war nicht das, was gemeinhin als Schönheit oder dergleichen begriffen wird, es war ihre Zurückhaltung, die Bescheidenheit des Herzens quasi, eine Unerfahrenheit als Besitz, den man verlieren kann. Zudem, wie er damals instinktiv wußte, eine Herzensverwandtschaft oder so, etwas Ähnliches, aber sehr anders. Wo hat sie nur ihre Scheu gelassen?
    »Was ist das?« fragt Anna und dreht die Büchse in den Fingern.
    »Weiß nicht. Hab ich gefunden. Irgend ein altes physikalisches Instrument vielleicht, oder was astronomisches?«
    »Geht das auf?«
    »Ich denke eigentlich schon.«
    Sie probiert an dem Ding herum, da geht die Klingel an der Tür.
    »Schön«, sagt sie, gibt es ihm zurück und geht nach nebenan.
    Der Schatz liegt schwer in seiner Hand. Mit einer Fingerkuppe fährt er über die Intarsien, die in das hölzerne Gefäß eingelegt sind. Sie sind unzweifelhaft aus Metall, der verlorene Glanz, die Kühle, die er spürt, das scheint ihm eindeutig zu sein. Er befühlt jeden Punkt des naiven Firmaments, und als er auf einen Bogen drückt, dessen Sichelform an einen Halbmond erinnert, öffnet sich das geheimnisvolle Behältnis unversehens und teilt sich in zwei Teile wie eine Taschenuhr oder ein Kompaß. Das Innere des Deckels spiegelt lediglich die Intarsien der oberen Außenseite wider, aber der rechte Teil, das eigentliche Gefäß, nimmt Fokko in seinen Bann. Im Zentrum findet sich eine schwarze Scheibe, etwa so groß wie eine Münze, auf die etwas gezeichnet ist, was an den Mond und ein geschlossenes Auge erinnert. Die Nacht, denkt er. Um das Zentrum herum liegen zwei konzentrische, mit allerlei Symbolen beschriftete Scheiben aus Metall, die augenscheinlich in der Lage sind, sich zu drehen. Das Werk liegt in einer Kapsel aus schwarzem Holz. Ähnliches hat er riesengroß in einer Kirche gesehen, wahrscheinlich ist es eine sehr alte Uhr, aber sie funktioniert wohl nicht, kein Geräusch ist zu hören, nicht die geringste Bewegung zu spüren.
    Und wenn das Ding auch nicht geht, wenn er es nicht versteht, es scheint immerhin eine Kostbarkeit zu sein, ein wertvolles Amulett, ein Talisman, der ihn ins neue Jahr begleitet. Die Zeichen auf den Metallscheiben sind in einer symbolischen Schrift verfaßt, vielleicht Himmelszeichen einer versunkenen Kultur, und ihm kommt in den Sinn, daß sich in dem Karton in dem Container womöglich eine Erklärung finden ließe, im liquidierten Nachlaß dieses Physikers, in den wissenschaftlichen Büchern, seinen persönlichen Aufzeichnungen vielleicht. Wie war noch sein Name gewesen?
    Eher zufällig, spielerisch setzt er den Zeigefinger auf das Symbol der Nacht im Zentrum. Es erscheint ihm nachgiebig, mechanisch. Vorsichtig drückt er zu, der Mittelpunkt läßt sich ein Stück weit eindrücken, da spürt er einen winzigen Stich im Finger und zieht ihn zurück. Das Zentrum hat sich wieder geschlossen, jetzt aber ist ein anderes Symbol zu sehen: eine Art helles Sonnenauge: die Intarsie hat sich gedreht oder verschoben. Auf seiner Fingerkuppe perlt ein winziger Blutstropfen. Er saugt ihn auf und drückt abermals auf das Zentrum. Nichts läßt sich mehr bewegen. Er schließt die Uhr.
    »Der Schnee will nicht so richtig«, sagt Anna und setzt sich wieder zu ihm.
    »Wird noch werden«, gibt er zur Antwort und hält den Schatz unterhalb der Tischkante in Händen. Sparenberg war der Name des Wissenschaftlers. Vielleicht sollte er noch mal zum Container zurück, um den Nachlaß zu retten. Heute wird kein Müllwagen kommen, aber morgen kann es zu spät sein.
    »Hermann-Josef Sparenberg«, sagt er still.
    »Wie bitte?«
    »Ach, nichts.«
    Anna nimmt sich Kaffee, stützt die Ellenbogen auf den Tisch, verschränkt die Hände um den Becher und schaut voller Andacht zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher