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Die Tulpe des Bösen

Die Tulpe des Bösen

Titel: Die Tulpe des Bösen
Autoren: Jörg Kastner
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wüßte! Es ist so düster hier, man kann kaum etwas erkennen. Erst habe ich es für einen Menschen gehalten, dann wieder dachte ich, es sei ein Tier. Eine Raubkatze vielleicht oder ein großer Affe. Jedenfalls war es behende wie ein Tier, als es an der Hauswand entlangkletterte. Wir müssen vorsichtig sein, damit es uns nicht entwischt!«
    »Dann holen wir doch die Nachtwache zu Hilfe«, schlug Katoen vor, zog eine hölzerne Rassel hervor und ließ sie mit einer hundertfach geübten Bewegung kreisen.
    Der durchdringende Laut rief die Wächter herbei, die bei Nacht in Amsterdams Straßen und Grachten patrouillierten, und bald standen Katoen fast zwei Dutzend Bewaffnete zur Verfügung. Eine der Streifen führte einen Hund mit sich, ein großes Tier mit nachtschwarzem Fell und einem eindrucksvollen Gebiß.
    Katoen ließ die Männer vor dem Durchgang eine enge Kette bilden und näherte sich, die Pistole noch immer in der Hand, dem windschiefen Verschlag. Die Bretter waren so nachlässig aneinandergenagelt worden, daß breite Ritzen zwischen ihnen klafften. Dennoch konnte er nicht erkennen, wer oder was sich da drinnen versteckte. In dem Durchgang war es schon dunkel genug, aber in dem Verschlag herrschte völlige Finsternis.
    Das Tor war nur angelehnt, ein Schloß gab es nicht. Hier wurden wohl keine Kostbarkeiten aufbewahrt. Die Pistole in der rechten Hand, öffnete er mit der linken vorsichtig das Tor. Jetzt hörte er leises, hastiges Atmen, wie von einem Tier, das sich, in die Enge getrieben, panikerfüllt in einen dunklen Winkel drückt. Aber das einzige, was er sah, waren ein paar leere Säcke auf dem Boden.
    »Eine Laterne!« rief er.
    Einer der Nachtwächter trat näher, und das flackernde Licht seiner Handlaterne fiel ins Innere des Verschlags. Eine Gestalt hockte zusammengekauert in der hintersten Ecke. Wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus zurückgezogen hat, dachte Katoen. Doch dieses Wesen hatte kein Haus, in das es sich verkriechen konnte. Es war vollkommen nackt. Arme und Beine waren dünn, geradezu dürr, und wirkten ebenso zerbrechlich wie der schmale Leib. Von dem in den Händen verborgenen Kopf war nur das lange Haar zu sehen, dunkel und verfilzt, verdreckt wie der ganze Körper.
    Vor Katoen hockte ein menschliches Wesen, ein Kind, ein Junge von vielleicht acht oder neun Jahren. Niemals zuvor war der Inspektor einem Erdensohn begegnet, der ihn mehr an ein wildes Tier erinnert hätte. Schuld daran war nicht allein der Schmutz. Die ganze Haltung des sehnigen Körpers war die eines Tieres, und die Augen, die ihn jetzt zwischen den vor dem Gesicht gespreizten Fingern hindurch ansahen, schienen keine menschliche Regung zu spiegeln. Was Katoen in ihnen las, waren nur die Angst des gestellten Wildes und das verzweifelte Sinnen auf einen Ausweg.
    Der Junge hatte die Arme um die Knie geschlungen, eine Hand umklammerte die gestohlene Börse – die Beute des Raubtiers. Mit der freien Hand zeigte Katoen auf den Lederbeutel.
    »Gib mir den Beutel, Junge!«
    Er sprach ruhig, aber mit Nachdruck. Der Junge aber rührte sich nicht, sondern starrte nur ängstlich auf die Doppelmündung der auf ihn gerichteten Pistole. Katoen senkte den Zwillingslauf.
    »Ich will dir nichts tun. Aber du mußt mir den Beutel geben, er gehört dir nicht!«
    Ganz langsam bewegte sich der Junge, und schließlich hielt eine zitternde Hand den Beutel hoch. Katoen nahm ihn an sich, steckte ihn ein und wollte dann nach der Hand des Jungen greifen. Doch der zuckte zusammen und zog die Hand blitzschnell zurück.
    »Nicht!« wimmerte er. »Nicht schlagen, bitte!«
    »Ich werde dich nicht schlagen. Niemand wird dich schlagen, das verspreche ich dir. Aber du mußt jetzt nach draußen kommen!«
    Katoen trat ein paar Schritte zurück, bis er außerhalb des Verschlages stand. Vielleicht fühlte der Junge sich so weniger bedroht. Tatsächlich erhob sich der kleine Dieb schwankend, und jetzt erst erkannte Katoen, wie mager er wirklich war. Dennoch war ihm schleierhaft, wie der Junge durch das kleine Loch in der Wand gepaßt hatte. Er nahm sich vor, das noch eingehend zu untersuchen.
    Mit vorsichtigen Schritten kam der nackte Junge, am ganzen Leib zitternd, nach draußen, in den vollen Schein der Laterne.
    Während Katoen noch überlegte, wo er ein paar Kleider für den Knaben herbekam, überstürzten sich die Ereignisse. Der Hund riß sich von dem Wächter los, der ihn an der Leine gehalten hatte, und sprang unter lautem Gebell auf den Verschlag zu.
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