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Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)

Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)

Titel: Die Treppe im See: Mystery-Thriller (German Edition)
Autoren: Ronald Malfi
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genügte, um kräuselnde Wellen heraufzubeschwören. Die Reflexion der Blumen verzerrte sich und zerfaserte schlussendlich.
    Ich richtete mich wieder auf und folgte dem Strom durch das Tal. Erst auf halbem Weg über die Ebene bemerkte ich, dass ich nicht allein war. Es stand ohne Zweifel fest und hätte mich eigentlich ängstigen müssen, doch ich fühlte mich weiterhin seltsam entspannt, ja geradezu ausgelassen. Wie ich weiterging und mein Genick von der Morgensonne wärmen ließ, kam es mir häufiger als einmal so vor, als blicke ich auf etwas Handfesteres im Gras als bloß Schatten.
    Ehe ich mich versah, hatte ich die Felder hinter mir gelassen. Den weiteren Weg versperrte ein Wall von Kiefern, in dem der Fluss verschwand. Im Schatten der Bäume wirkte die Blütenpracht wie die Landebahnbeleuchtung auf einem Flughafen. Ich betrat den Wald geduckt, weil die Äste tief herabhingen. Zudem blendeten sie das Licht sofort aus, und ich glaubte, das Gehölz atme mich regelrecht ein.
    So dicht die Zweige hingen, gleißte die Sonne weiter voraus doch hindurch: Ich näherte mich einer Lichtung. Zu meinen Füßen spiegelte sich der Himmel, da merkte ich, dass ich auf einen See schaute. Aus unerfindlichem Grund schlug ich ein schnelleres Schritttempo an. Ich hastete weiter, bis ich endlich auf der anderen Seite der Baumgruppe hervortrat und neuerlichem Tageslicht entgegensah. Vor mir lag wie eine Scheibe aus schwarzem Rauchglas ein ausuferndes Gewässer. In seiner Unermesslichkeit ließ es die Bäume am Gegenufer kaum erkennen.
    Eine Weile blieb ich am Rand stehen, um die Sonne auf Rücken und Schultern zu genießen. Cremefarbene Wasserlilien trieben auf den Wellen, trudelten träge über die Spieglung meines Gesichtes.
    Kyle war hier – die Bewusstwerdung war bahnbrechend, glich einem Hammerschlag auf den Kopf. Ja, Kyle war hier . Im Gedenken an ihn lag ein Geschmack auf meiner Zunge, und sein Odeur streifte flüchtig wie ein Lufthauch meine Nase. Ich ging in die Knie, neigte mich über die Steine am Ufer und schob die Lilien von meinem Spiegelbild. Das Wasser war so kalt, dass sich meine Eingeweide zusammenzogen. Mein Antlitz waberte und schillerte, ehe es sich wieder festigte. Ich war es selbst, der da zurückschaute – ich und sonst niemand. Trotzdem verharrte ich und hielt den Atem an, denn ich wollte keine Wellen machen, sondern ihn sehen – unbedingt. Leider blieb es bei meiner Reflexion, bei mir und sonst niemandem. Ich sah mir selbst in die Augen, betrachtete meine neue Frisur und die Struktur der Gesichtsknochen unter brauner Haut. Der kaum merkliche Knick im Nasenbein sowie das kleine Kinngrübchen – all dies war unverkennbar ich.
    Ich und ich und ich.
    Verdrossen zog ich mich auf Händen und Füßen zurück. Zum Aufstehen konnte ich mich nicht bewegen, noch nicht. Dann lachte ich. Es platzte völlig unkontrolliert aus mir heraus, und damit einher gingen Tränen, die direkt aus meinen Augen ins hellgrüne Gras tropften. Ich lachte und weinte, lachte und weinte.
    Es tut mir so leid, Kyle. Ich liebe dich, Bruder.
    Ich hatte doch gar kein Grübchen am Kinn.
    Ich war du.
    Ich machte einen Satz nach vorn, dass ich beinahe ins Wasser fiel. Als ich erneut hineinschaute, stieß ich wieder auf mein Gesicht und beäugte es genau, erkannte alles darin wieder, was mich ausmachte … und dennoch: Wie im flackernden Kegel einer Taschenlampe fielen mir andere Einzelheiten auf, die mir überhaupt nicht zu eigen waren – dazu Gefühle, die ich bislang nicht gehegt hatte, sowie Ausdrucksformen, die nicht zu meinem Fundus gehörten …
    »Kyle«, wisperte ich.
    Ich war du.
    Wem stand es zu, das Gegenteil zu behaupten? Wer sagte denn, dass wir beide nicht in der Tat ein und derselbe waren?
    Ich war du.
    »Ja«, sprach ich, als ich ihn sah – ja, wirklich erkannte – und den nächsten Lachanfall nicht unterdrücken konnte. Meine Tränen fielen ins Wasser, zerstörten mein Ebenbild. »Ja, du bist es, du und niemand anders. Ja! Ja …«
     
    Etwa drei Monate danach – wir wohnten längst in einer hellen, kleinen Atelierwohnung in San Diego – packte es mich: Ohne Zögern, ohne Bedenken stand ich auf und ging ins Schlafzimmer, wo ich mich vor das Bett kniete und unsere Klapptruhe durchstöberte. Als ich den Notizblock fand, den ich gesucht hatte, nahm ich ihn nebst Kugelschreiber mit hinaus auf die Terrasse, von der aus man das Gaslamp Quarter überblickte. Eine Ahnung vom Ende des Sommers lag in der Luft, als ich zu schreiben
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