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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters
Autoren: John Updike
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für die wir Tage gebraucht hatten, fünfhundert Meilen, achthundert Kilometer, die nordwestliche Schulter von Afrika entlang.
    Wir machten uns bei Tagesanbruch auf den Weg. Wir hatten uns mit einer großen Tüte Orangen und vielen Flaschen Perrier ausgerüstet. Daddy fuhr, Stunde um Stunde; Mommy weigerte sich, in Marokko zu fahren, oder vielleicht schloss der Automietvertrag sie aus. Ihr Kinder, alle vier hinten im kleinen Renault zusammengepfercht, wart still, spürtet, wie Kinder es tun, echte Gefahr, echte Bedrängnis.
    In irgendeiner staubigen kleinen Stadt, vielleicht in Safi, übersah ich ein Rotlicht und fuhr einfach weiter. Eine Trillerpfeife gellte, und im Rückfenster sah ich, so deutlich, wie ich das kleine Blumenmädchen mit dem Fuß hatte aufstampfen sehen, einen Polizisten mit weißem Helm, der gelassen unsere Zulassungsnummer notierte. Sein weißer Helm blieb hinter uns zurück, sein Blick folgte uns. Mein Magen verkrampfte sich. Aber die Straße führte weiter geradeaus, und die Passanten in ihrer einheimischen Tracht gingen, ohne uns zu beachten, ihrer Wege. Noch ein Tag, und wir würden in Paris sein, in Sicherheit; im Übrigen war die Verkehrsampel sehr schlecht platziert, viel zu weit auf der Seite und hinter irgendwelchen Reklameschildern. Kriminell fuhr ich weiter. Die Jungen klatschten Beifall, die Mädchen waren sich nicht so sicher.
    «Vielleicht hätte er dich bloß ausgeschimpft», sagte Genevieve.
    «So siehst du aus», sagte Mark. «Er hätte Dad in ein dreckiges Loch voller Ratten und Wanzen gesteckt.»
    «Ich habe das Rotlicht gesehn», sagte Mommy sanft, «und nahm an, du siehst es auch.»
    «Tausend Dank», sagte ich, weniger sanft.
    «Ich hab’s nicht gesehn», sagte Caleb, unser geborener Tröster und Vermittler. «Vielleicht stand die Ampel auf Gelb und sprang gerade um.»
    «Wer hat’s gesehn und glaubt, die Ampel stand auf Gelb?», fragte ich hoffnungsvoll.
    Schweigen war die Antwort.
    «Wer hat die Ampel gesehn, und welche Farbe hatte sie?»
    «Rot», antworteten drei Stimmen im Chor.
    «Was soll ich eurer Meinung nach tun? Umkehren und mit dem Polizisten reden?
Je le regrette beaucoup, Monsieur, mais je n’ai pas vu le, la lumi– »
    «Nein!»
, entschied ein anderer Chor; Mommy enthielt sich der Stimme.
    «Du hast deine Entscheidung getroffen», sagte Judith, und ihre Stimme klang fast wie die einer Frau.
    «Gib Gas, Dad», sagte Mark.
    Wir waren schon am Stadtrand, und kein Polizeiauto machte Jagd auf uns. Das leere grüne Weideland, die ruhige leere Straße hatten uns wieder. Unsere lange strapaziöse Fahrt die Küste hinunter spulte sich rückwärts ab. Hier war das kleine Lokal auf der Wiese oben auf dem Kliff. Hier war die Stelle, wo alle sich geweigert hatten, die Lebersandwiches zu essen, die ein Einäugiger auf einem Holzkohleherd am Straßenrand für uns zubereitet hatte. Hier war Casablanca, das überhaupt nicht so aussah wie im Film. Und hier war Rabat. Die roten Transparente waren abgenommen worden, die Russen waren weitergezogen. Mittlerweile war es später Nachmittag, und Daddys Nackenmuskeln schmerzten, seine Augen waren voller Sand, so kam es ihm vor, und inzwischen war er sicher, dass die Nummer auf seinem Zulassungsschilddie ganze Küste hinauf und hinunter gekabelt wurde, mittels des Netzwerks der Geheimpolizei, die alle Monarchien sich halten. Jeden Augenblick würden Sirenen heulen, und man würde ihn festnehmen und tief hineinstoßen in die bittere Wahrheit von Marokko, die er zu ignorieren versucht hatte, während er sich Sonne und Exotik stahl.
    Oder die Polizei wartete auf ihn an der Hotelrezeption in Tanger; man hatte seinem Namen bereits von Restinga aus nachgespürt auf einer Fährte von Übernachtungen bis zur Empfangsbescheinigung, die er in der Bank von Agadir unterschrieben hatte. Oder aber es würde eine Szene im Flughafen geben: Handschellen an der Passkontrolle. Oh, warum hatte ich nicht angehalten, als die Trillerpfeife ertönte?
    Wäre mein Französisch weniger primitiv gewesen, hätte ich vielleicht angehalten.
    Hätten wir nicht kürzlich, im Hotel mit dem Papagei, in einer
Newsweek -Ausgabe
einen Artikel darüber gelesen, wie unschuldige Amerikaner in afrikanischen und asiatischen Gefängnissen dahinvegetierten, ich hätte vielleicht angehalten.
    Hätten die Vereinigten Staaten nicht so unentschuldbar, wenngleich unlösbar in Vietnam gekämpft, ich hätte vielleicht angehalten.
    Wären nicht die roten Fahnen in Rabat gewesen, der
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