Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters
Autoren: John Updike
Vom Netzwerk:
masturbierende Mann am Strand, das tote Mädchen neben dem Lastwagenrad … mein Versagen, meine Weigerung oder Feigheit sind immer noch da, ein Fleck auf meinen Erinnerungen an Marokko.

    Es war dunkel, als wir in Tanger ankamen, und das Hotel war nur durch ein Labyrinth von Einbahnstraßen zu erreichen, aber der Mann am Empfang hatte unsere Reservierung säuberlich aufgeschrieben vor sich liegen und keinen Haftbefehl für mich. Der König selbst hätte nicht touristenfreundlicher sein können, der grauhaarige Hotelpage (der aussah wie Omar Sharif) lächelte, als er meinen kleinen Salat aus Dirhamscheinen entgegennahm, die Kellner im Hotelrestaurant verbeugten sich so tief, als seien wir die einzigen Gäste. Was wir um diese Uhrzeit auch beinah waren; die Fahrt hatte fünfzehn Stunden gedauert. Wir hatten sämtliche Orangen aufgegessen und alle Perrier-Flaschen ausgetrunken. Am nächsten Morgen nahmen wir betrübt Abschied von unserem treuen Renault, der uns nicht im Stich gelassen hatte und den wir mit Staub bedeckt zurückgaben. Die Leute bei Hertz, gegen deren Nummernschild ich mich vergangen hatte, sahen kaum auf von ihren Abrechnungen, die einen Monat später, aus dem Ozon von Zahlen, der die Welt erstickt, in London eintreffen würden. Wir waren davongekommen.

    Erinnert ihr euch an Paris, Kinder? In der rauen Frühlingskühle der knospenden Tuillerien drängten wir uns noch eng aneinander. Hinten im Renault war nicht genug Platz gewesen, dass ihr euch alle vier hättet zurücklehnen können, einer von euch, meistens war es Genevieve, musste vorn auf der Kante sitzen und atmete an meinem Ohr. Mommy saß angeschnallt neben mir und verteilte Orangenspalten und Wasser; Caleb und Mark debattierten endlos, wer wen gerade knuffte; Judith, am Fenster, versuchte, sich fortzuträumen. Wir hatten in Marokko ein Höchstmaß an familiärerVerdichtung erreicht und konnten uns von nun an nur zerstreuen. Erwachsen werden, aus dem Haus gehen, mit ansehen, wie eure Eltern sich scheiden ließen – alles hat sich in dem Jahrzehnt seither zugetragen. Aber auf einer hellen hohen Plattform des Eiffelturms hatte ich noch das Gefühl, wir seien für alle Zeit untrennbar verbunden.

Archäologie in eigener Sache
    In seiner zunehmenden Isolation – in die Jahre gekommene Golfkumpel tot oder im Sterben liegend, seine alten Geschäftskontakte abgerissen, kein Büro mehr, in das er gehen könnte, seine Frau immer weg, bei ihrem Bridge oder ihren Komitees, seine Kinder beschäftigt und von Sorgen in Anspruch genommen, wie er selbst es in mittleren Jahren gewesen war – entwickelte Craig Martin ein Interesse an den Spuren, die frühere Besitzer seines großen Grundstücks hinterlassen hatten. In der Blüte seiner Jahre, als er jeden Tag zehn oder zwölf Stunden arbeitete und das ganze Wochenende geselligen Umgang pflegte, hatte er kaum Augen für sein Land gehabt. Jahre waren vergangen, ohne dass er entlegenere Ecken je betreten hätte. Die vier Hektar sollten sein Haus gegen die Beeinträchtigungen durch zu nahe Nachbarn abpolstern und eine Investition für den Tag sein, an dem diese Hektar verkauft werden würden, aller Wahrscheinlichkeit nach an einen Bauunternehmer, und der Profit an Craigs Witwe Grace ginge, die sechs Jahre jünger war als er.
    Das Gelände war, soweit er wusste, bis etwa 1900 ein bewaldeter Hügel hinter einem Landsitz gewesen. Ein wohlhabenderälterer Mann, der sich mit dem Heiraten Zeit gelassen hatte, baute für seine frisch angetraute Frau und sich ein geräumiges Sommerhaus auf einem einstigen, von Findlingen umrahmten Picknickplatz, auf dem genug Bäume gefällt worden waren, dass man einen Ausblick auf den ungefähr fünfhundert Meter entfernten Atlantik hatte.
    Es gab auf dem Gelände alte, zwischen Stützmauern aus Feldstein angelegte Wege, die für Autos mit Verbrennungsmotor zu steil waren und zu scharfe Kurven hatten; Pferde mussten Wagen durch diese Haarnadelkurven hinaufgezogen haben, durch diese Tunnel ausdauernden Grüns. Bäume scheuen sich selbst nach Jahrzehnten noch, Wurzel zu fassen auf einem Boden, der einst von Rädern zusammengepresst wurde. Auf dem Rand eines der Granitfelsen stehend, die ihm gehörten, stellte Craig sich vor, dass Farmwagen oder Ponykarren quietschend und knarrend auf ihn zukamen, die Räder mit den schmalen Speichen sich durch sumpfige, jetzt von Stechwinde überwucherte Senken pflügten, die in seiner Phantasie Fahrwege waren, und junge Leute in sommerlichen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher