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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters
Autoren: John Updike
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halb verhungert wie wir waren, im Kreis auf Teppichstapeln Platz nehmen, um ein, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, riesiges Messingtablett herum, während hinter uns ein lachendes barfüßiges Mädchen von einem zum andern ging und unsere Haare mit Rosenwasser besprenkelte. Mark, angenehm gekitzelt, machte sein Äffchengesicht.
    Dieses Gefühl, schön bewirtet zu werden, umgeben von unterschwelligem Amüsement, erlebten wir noch einmal: auf einer Wiese hoch über dem Meer, wo nach Meilen leerer Landschaft und leerer Mägen ein winziges Lokal, kaum mehr als ein Schuppen, mit einem hölzernen Pfeil auf sich aufmerksam machte. Wir hielten an und gingen beklommen im Gänsemarsch übers Gras, fühlten uns wieder riesenhaft, wie vor Tagen, als wir tiefer in jenen duftenden Bus vordrangen. Wir blieben stehen, als ein Mann mit einem Tisch aus der Hütte kam und ein Junge mit Stühlen ihm folgte. In einer Atmosphäre allgemeiner Belustigung wurden die Möbel auf die grasbewachsene Erde gestellt, an einen Platz, auf den wir mit leichter Handbewegung hindeuteten. Nach einer kleinen Weile wurden Wein, Reis, Kebabs und Coke aus der Hütte gebracht, und wir aßen und tranken mit Blick auf den Atlantik, auf beigefarbene Klippen und weite Weiden, auf denen ein einsamer Esel graste – die einzigen Gäste vielleicht, die dieses schöne Lokal am Meer je gehabt hatte.

    Sogar auf der holprigen Nebenstraße nach Tafraout, in die steinigen Hügel des Anti-Atlas hinauf – der Benzinanzeiger auf null und weit und breit kein Haus, kein Schaf, keine Ziege –, stand in einer Senke der ungepflasterten Piste ein kleines Mädchen und hielt uns eine Handvoll Blumen hin. Die Straße war hier eins geworden mit den Steinen eines ausgetrockneten Flussbetts, und der Renault kam nur langsam voran, so langsam, dass die Kleine, als sie sah, dass wir nicht anhalten würden, Zeit hatte, unseren Kotflügel mit ihren Blumen zu peitschen und sie ins offene Autofenster zu werfen. Zwei oder drei fielen uns in den Schoß, der Rest fielauf die Erde zu ihren Füßen. Im Rückspiegel sah ich, wie sie wütend mit dem Fuß aufstampfte. Vielleicht weinte sie. Sie war ungefähr so alt wie Genevieve, die Mitleid hatte und traurig aussah, als das Mädchen hinter uns immer kleiner wurde, bis es nicht mehr zu sehen war.
    In Tafraout konnte Caleb den Blick nicht abwenden von einem schrecklich verkrüppelten Mann, der sich, einer Spinne gleich, hurtig über die festgetretene Erde fortbewegte, auf den Armen, und den kleinen Körper zwischen ihnen mitschleppte. Er bettelte nicht; im Gegenteil, er bewegte sich wie jemand, der am Ort ein gewisses Ansehen genießt, der Geschäfte zu erledigen hat.
    Nördlich von Agadir saßen wir in unseren Motelzimmern und warteten, dass die Minuten bis zur Abendessenszeit verstrichen, als wir plötzlich merkten, dass der Verkehr auf der Straße draußen verstummt war. Die Polizei war rasch zur Stelle, und die Beamten redeten mit dem Fahrer eines staubigen Lastwagens, einem jungen Mann in sandfarbenen Arbeitskleidern, der in sich zusammengesackt mit gesenktem Kopf am Führerhaus lehnte und nickte, nickte, während die Polizisten ihn befragten. Der Verkehr war auf beiden Seiten der Straße angehalten worden. Wir blieben auf unserer Seite, Touristen bloß, aber interessiert. Es war schwer zu erkennen, was passiert war. So etwas wie ein Bündel lag da, wurde aber von einem Rad des Lastwagens fast ganz verdeckt. Den Tumult nutzend, der entstand, als die Polizei die Mutter holte, ging Mark über die Straße und sah nach.
    Sein Gesicht war blass, als er auf unsere Straßenseite zurückkehrte. Er machte nicht sein komisches Äffchengesicht. Wir fragten ihn, was es da drüben zu sehen gebe. «Ihr wollt das nicht sehn», war seine Antwort.
    «Es war ein kleines Mädchen», sagte er uns später.
    Die Mutter war stämmig und trug Schwarz, aber ihr Gesicht war unverhüllt; sie rannte die kahle Böschung auf der anderen Straßenseite hinauf und hinunter und zerriss den Himmel mit ihrem unheimlichen Heulen, ihrem Wehklagen, während Männer ihr nachrannten und versuchten, sie festzuhalten. Es gelang ihnen nicht, und die erregte Menge, die sie einholen wollte, wurde immer größer, ein Gefolge schwerfälliger Körper, den ihr Gram in seiner übermenschlichen Kraft hinter sich herzog. Kein Amerikaner hätte die Töne hervorbringen können, die sie ausstieß; aller Atem ihrer Brust verströmte sich aufwärts zum Himmel, der ihr so jäh, so machtvoll
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