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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters
Autoren: John Updike
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eine Gezeichnete von diesem Augenblick an. Und ich für sie, wer weiß, ein Gezeichneter.
    Solange die Frau sich nicht von ihren elektronischen Amüsiergeräten löst und ins Bett kommt, habe ich Schwierigkeiten einzuschlafen. Dann, um drei, wenn in der Stadt kein Auto mehr unterwegs ist, nicht einmal ein betrunkener Halbwüchsiger oder ein übersättigter Schürzenjäger, der auf Gummireifen heimwärts hastet, wache ich auf und staune, wie reglos sie schläft. Sie trägt neuerdings ein geknotetes Kopftuch, damit ihre Frisur nicht aus der Façon gerät,und die beiden Enden des Knotens heben sich gegen das schwache Licht vom Fenster ab wie kleine Ohren oben auf ihrem Kopf. Ihre Reglosigkeit ist rührend, ebenso wie die mädchenhaft säuberliche Ordnung, die sie in ihrem Ankleidezimmer und in der Küche hält und im ganzen Haus halten würde, wenn ich sie ließe. Es gelingt mir nicht, wieder in die Unbewusstheit zu fallen; wie ein Weberknecht werde ich auf der Oberflächenspannung ihrer schönen Reglosigkeit festgehalten.
    Ich lausche auf das erste Auto in der Stadt, eine Bewegung zum Tagesanbruch hin; ich warte darauf, dass die Frau aufwacht, das Bett verlässt und die Welt wieder in Gang setzt. Die Stunden fließen mit schwerfälligem Rucken vorwärts. Sie sagt, ich schliefe mehr, als ich mitbekäme. Ich bekomme aber sehr wohl mit, wenn sie sich endlich rührt: sie bewegt gereizt die Arme, kämpft sich aus einem Traum heraus, und im zunehmenden Licht vom Fenster her schiebt sie dann die Decken zurück und entblößt für einen Augenblick ihr hochgerutschtes Nachthemd. Ich sehe als Silhouette ihren Oberkörper, der sich durch eine Diagonale zu sitzender Haltung erhebt. Ihre nackten Füße tappen ums Bett, und viele Morgen, nun da ich im Ruhestand bin und fast achtzig, schlafe ich für eine Stunde noch einmal ein. Für die Welt ist gesorgt, ich kann loslassen, sie braucht mich nicht.
    Der Rasierspiegel steht vor einem Fenster, das aufs Meer hinausgeht. Das Meer ist immer voll, plan wie ein Fußboden. Oder beinah: es hat eine delikate planetarische Aufbauchung, die ein paar schattenhafte Frachter trägt und Kreuzfahrtschiffe, die reglos Boston Harbor verlassen. In der Nacht wölbt der Horizont sich zu einem Bogen aus Lichtern – jedes Jahr, so scheint es, sind es mehr. Blinkende Flugzeuge ausden vier Himmelsrichtungen senken sich auf einer schrägen Bahn, einer geschwungenen Hohlkehle in der Luft, zum ungesehenen Airport in East Boston nieder. Meine lebensverlängernden Pillen in der linken Hand, hebe ich das Glas, das Wasser darin mild vom kurzen Warten auf dem Marmorwaschtisch. Wenn ich die Gedanken dieses sonderbaren alten Kerls richtig lese, bringt er gerade einen Toast auf die sichtbare Welt aus, sein bevorstehendes Verschwinden aus ihr sei verdammt.

Informationen zum Buch
    «Es ist leicht, Menschen in der Erinnerung zu lieben», schreibt John Updike, und genauso leicht, «die Toten falsch zu zitieren». Darum will er sie so zärtlich, aber auch so genau wie möglich beschreiben – die Großeltern, die musische Mutter mit ihren jähen Zornesausbrüchen, den lehrenden Vater, die eigenen Kinder und Enkel. Und natürlich die Frauen, immer die Frauen: Ehe, Ehekrisen, Ehebruch – auch davon handeln diese nachgelassenen Erzählungen.
    «Die Tränen meines Vaters» ist ein Buch voller Echos, voller Wiederbegegnungen, und es ist eine Feier der sinnlichen Welt: Erste Küsse, die «tauig» waren, erste Zigaretten, die die Nerven vibrieren ließen, all die durstig gekippten Gläser eines überreichen Lebens führen zurück zu seinen Quellen.

    «Wer sich Updike anvertraut, dem kann es im Leben, und zwar gerade im banalsten Leben, niemals langweilig werden.» . (Süddeutsche Zeitung)

    «Die lebhafteste, menschenfreundlichste Stimme der amerikanischen Literatur.» . (Die Zeit)

Informationen zum Autor
    John Updike, 1932 in Shillington, Pennsylvania, geboren, studierte in Harvard, bevor er als Redakteur des «New Yorker», als Lyriker, Essayist und Romancier hervortrat. Er wurde unter anderem mit dem National Book Award, dem National Book Critics Circle Award, dem Prix Médicis und zweimal mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
    John Updike starb am 27. Januar 2009 in Beverly Farms, Massachusetts. Sein gesamtes Werk ist auf Deutsch im Rowohlt Verlag erschienen.

Impressum
    Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel «My Father’s Tears and Other Stories» bei Alfred A. Knopf, New York.

    Rowohlt Digitalbuch,
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