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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters
Autoren: John Updike
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Leben eine langsame Fortbewegung an der östlichen Meeresküste hinauf gewesen. Die Frau und ich scherzen, dass unser nächstes Umzugsziel Kanada ist, wo wir in den Genuss allgemeiner Gesundheitsfürsorge kämen. Eine dritte sonderbare Gewohnheit, die ich mir zugelegt habe, ist diese: wenn ich abends zu Bett gehe, nachdem ich mich mit einem Magazin gegen den Schlaf gewehrt habe, und jetzt vergeblich warte, dass die Frau heraufkommt (sie ist tief in E-Mail -Korrespondenz mit unseren Enkelkindern versunken und in englischen Kostümstücken im öffentlichen Fernsehen), vergrabe ich mein Gesicht seitlich im Kissen und recke mich bis zu den Zehen in der Hoffnung, den Fußkrämpfen zuvorzukommen, und
stöhne laut dreimal – «Ooh! Ooh! Ooh-uh!»
–, als ob der Segen, am Ende des Tages loszulassen, eine Qual sei. Anfangs mag es ein vernehmlicher Appell an die Frau gewesen sein, sie solle das elektronische Gerät, welches auch immer sie aufhielt, abschalten (ich bin taub genug, um total verwirrt zu sein von dem britischen Akzent in diesen Kostümstücken) und zu mir ins Bett kommen, aber inzwischen ist es zu einem Ritual geworden, das ich für ein immaterielles, unsichtbares Publikum aufführe – meinen Schöpfer, hätte mein Großvater gesagt, mit diesem kleinen dünnlippigen Lächeln, das unter seinem grauen Schnurrbart hervorlugte.
    Als Kind habe ich ihn oft angesehen und mich gewundert, wie er bei Verstand bleiben konnte, so nah am Tod. In Wahrheit,das zeigt sich jetzt, träufelt die Natur ein leichtes Anästhetikum in deine Adern, jeden Tag, sodass du glaubst, der nächste Tag sei so gut wie ein Jahr und das nächste Jahr so lang wie ein Leben. Die tägliche Routine des Lebens – das Zähneputzen und Pillenschlucken, das Hantieren mit Zahnseide und Wasserglas, das Zusammenlegen der Socken und das Einräumen der Wäsche in die richtigen Kommodenschubladen – zermürbt dich. Und das
Rasieren
.
    Ich rasiere mich jeden Morgen. Sportler und Filmschauspieler lassen heutzutage einen kleinen Stoppelbart stehen, um Rivalen einzuschüchtern oder anziehend auf Höhlenfrauen zu wirken, aber ein Mann meiner Generation ginge eher in Unterhosen auf die Straße als unrasiert. Der sehr heiße Waschlappen, an die Lider gedrückt, gut gegen trockene Augen. Der Schaum, der Pinsel, der Rasierer. Die rechte Wange, dann die linke, entlang der Kinnlinie nach ausgelassenen Stellen tasten und als Nächstes die Oberlippe mit der kleinen Mitteldelle, genannt Philtrum (wussten Sie das?), und schließlich die empfindliche Gegend, wo man sich am häufigsten schneidet, zwischen der Unterlippe und dem Knubbel des Kinns. Meine Hand ist noch ruhig, und die Dreifachklingen, die sie jetzt herstellen, halten ewig.
    Beim ersten Mal, als ich mit der Frau schlief, deretwegen ich in Passaic beinah verhaftet worden wäre, habe ich geschnurrt. Dieses Detail ist mir jahrelang nicht in Erinnerung gewesen, aber neulich, als ich jemandes Katze auf dem Schoß hielt, ist es mir wieder eingefallen. Die Dame und ich lagen auf einem kratzigen Sofa, bezogen mit diesem haitianischen Baumwollstoff in gebrochenem Weiß, der bei vorstädtischen Innenausstattern einst als chic galt, und als ich sie vollgepumpt hatte mit mir – meinem genetischen Surrogat,in Proteine verpackt –, lag ich, mich abkühlend, auf ihr. «Hör mal», sagte ich, lehnte meine Wange gegen ihre, die noch heiß war vom Liebesglühen, und ließ sie das sacht rasselnde Geräusch animalischer Zufriedenheit hören, das meine Kehle produzierte. Ich hatte nicht gewusst, dass ich das konnte, aber ich hatte das Geräusch in mir gefühlt und gewartet, bis mein Glück so reichlich überfloss, dass ich es hervorbringen konnte. Sie hörte es. Ihre Augen, wenige Zoll von meinen entfernt, weiteten sich staunend, und sie lachte. Ich war ein pflichtbewusstes, religiöses Kind gewesen, aber hier und jetzt erkannte ich, dass der Hafen, wo das Leben rund und voll ist und es keiner weiteren Erklärung bedarf, sich für mich geöffnet hatte, und ich erfuhr einen Frieden, der mich nie ganz verlassen hat und auch jetzt noch in Fetzen an mir hängt.
    Jahre zuvor, vor unserer Affäre, hatte eine Gruppe von uns jung Verheirateten rauchend auf einer sommerlichen Veranda gesessen, und als sie, im Tennisdress, die Beine übereinanderschlug, ließ das Aufblitzen der Unterseite ihres Schenkels meinen Mund ausdörren – ließ ihn so jählings trocken werden, als hätte ein Wüstenwind in meinem Kopf geheult. Sie war für mich
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