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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters
Autoren: John Updike
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rotbackig aus in ihrem schweren grauen Mantel.
    «Baby», höhnte ihre große Schwester, die allenthalben die Blicke einheimischer Männer auf sich zog und eine gewisse Überlegenheit empfand.
    «Der Bus kommt bestimmt», versprach Daddy und sah über ihre Köpfe hinweg zum Fluchtpunkt, wo die Straße sich im rosa Gewirr der neuen Gebäude verlor, die der König sehr langsam bauen ließ.
    Ein dünner dunkler Mann in schmutzigem Kaftan tauchte plötzlich auf und redete in einer langatmigen nasalen Sprache. Er hielt seine Handflächen hin, als sollten wir daraus lesen.
    «Dad, der Mann redet mit dir», sagte Mark – damals in der Pubertät, heute Student der Computerwissenschaft – peinlich berührt.
    «Ich weiß», sagte ich hilflos.
    «Was sagt er, Dad?», fragte Genevieve.
    «Er fragt, ob dies die Bushaltestelle ist», log ich.
    Der Mann kam, immer weiterredend, näher, aus seinem Mund wehte ein Hauch reich an muslimischen Essenzen – einheimische Gewürze, Zahnfäule, ausgedörrte Schleimhäute vom frommen Fasten. Er redete immer schneller, drängender, aber in seinen blutunterlaufenen Augen verglomm ein Licht.
    «Sag ihm, er soll weggehn.» Dieser Vorschlag kam von Caleb, unserem stoischen, schweigsamen, vernünftigen Sohn, heute ein Collegestudent im zweiten Jahr, der im Hauptfach Zoologie studiert.
    «Ich glaube, er geht von allein», sagte ich auf gut Glück, und der Mann ging tatsächlich, über unsere verständnislose,reaktionslose Idiotie den skelettdürren Kopf schüttelnd. Unsere kleine Familie rückte erleichtert enger zusammen. Sand wehte in unsere Schuhe, und die halbkreisförmigen Flure des verlassenen Hotels, unserer einzigen Heimstatt in diesem fremden Land, heulten hinter uns wie ein tiefklingendes, ungefüges Musikinstrument.

    Der Bus! Der Bus nach Tanger! Wir winkten – und wie wir winkten! –, und kaum zu glauben, der Bus hupte und hielt. Er war grün wie welkes Gras, und auf dem Dach waren Bretterverschläge mit Hühnern und aufgerollte Teppiche festgebunden. Drinnen saßen Marokkaner: staubige gebeugte geduldige fremde Menschen, mit etwas kleinem Gehäkelten auf dem Kopf und etwas kleinem Gehäkelten an den Füßen, die Körper kaum zu unterscheiden von den Gepäckbündeln auf dem Schoß, die Frauen gehüllt in Schwarz, manche mit verschleiertem Gesicht, aller Augen funkelnd, in erschrecktem Staunen aufwärtsgewandt bei diesem Ansturm großer, erhitzter kindischer Amerikaner.
    Der Fahrpreis, ein paar Dirhams, wurde gleichmütig von einem Fahrer mit Schnurrbart à la Nasser und dazu passendem Kinn entgegengenommen. Hinten im Bus war noch Platz. Als wir uns mit unseren sperrigen Koffern durch den Gang kämpften, schwankte der Bus, und ich fürchtete, das fragile Fahrzeug mit seiner empfindlich ausbalancierten Armutsfracht könnte unter unserer schwerfälligen Unschuld zusammenbrechen. Weiter hinten im Bus verstärkte sich ein einheimischer Geruch, wie von verbrannten Seilen.
    In Tanger wechselten wir vom schwankenden Bus in ein überladenes Taxi, dessen Fahrer, im dringenden Bedürfnis, uns abzuladen, mit ins Hertz-Büro kam und uns bei den Verhandlungenzu helfen versuchte. Allah sei gepriesen, seine Hilfe war nicht nötig: die Hertz-Karte aus gelbem Plastik, die ich aus der Tasche zog, genügte vollauf. Wäre ich in der Lage gewesen, auch eine blassgrüne American-Express-Karte hervorzuziehen, hätte das unsere von Ungewissheiten bedrohte Fahrt die Küste hinunter, von Tanger nach Rabat nach Casablanca und dann durch die schmaleren Straßen von El Jadida und Essaouira und Tafraout, enorm entspannt, denn so mussten wir in jedem Hotel zunächst den Empfangschef beknien, einen Verrechungsscheck von unserer Londoner Bank zu akzeptieren, und nur die teuersten Hotels waren bereit, es zu riskieren; daher hin und wieder Einsprengsel von Luxus auf unserer entbehrungsreichen Flucht vor den Mittelmeerwinden.
    Die breiten Straßen von Rabat waren rot geschmückt. Der Gedanke, die roten Transparente könnten uns gelten, verging uns, als wir Hämmer und Sicheln und Poster von Lenin erkannten. Eine hochrangige Sowjetdelegation, zu der Kossygin und Podgorny gehörten, wurde soeben vom flexiblen König empfangen, erfuhren wir im Rabat Hilton, das bis zum letzten Zimmer ausgebucht war, vollgepackt mit Kommunisten, und selbst die bedürftigsten Kinder der freien Wirtschaft nicht unterbringen konnte.
    Aber ein Hotel, das bei den Sowjetherren weniger gefragt war, nahm uns auf, und zum Abendessen ließ man uns,
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