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Die Tränen meines Vaters

Die Tränen meines Vaters

Titel: Die Tränen meines Vaters
Autoren: John Updike
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wundern.» Es lag eine Reinheit, eine puritanische Klarheit in ihren Lektionen, die aus mir einen besseren Menschen machen sollten. Irgendwann während der misslichen Nachwirkungen unserer kurzen Vertrautheit ließ sie mich wissen – denn ich hatte sie früher auf Partys immer gesucht und war zu ihr gegangen, um gewissermaßen ihre Temperatur zu messen und einen ungnädig gewährten Brocken der unendlichen, jedem Liebesobjekt anscheinend zur Verfügung stehenden Weisheit entgegenzunehmen –, wie ich mich ihr gegenüber hätte benehmen müssen, wenn ich «ein Gentleman» gewesen wäre.
Wenn ich ein Gentleman gewesen wäre
– es war ein die Augen öffnender Vorwurf. Ich war kein Gentleman und hatte nicht das Recht, jeden Morgen einen Anzug anzuziehen und mich aufzumachen, Leute, die reicher waren als ich, zu überreden, in die Möglichkeit ihres eigenen Todes zu investieren. Ich hatte zu stottern begonnen bei dem branchenüblichen beschwichtigenden Schwulst: «In dem extrem unwahrscheinlichen Fall» und «Wenn Sie nicht mehr bei uns sind» und «Ihren Lieben ein Leben auf dem gewohnten finanziellen Niveau sichern» und «Sagen wir, Sie leben ewig, so ist dies immer noch eine erstklassige Investition».
    Meine Klienten spürten, dass der Tod für mich im Grunde undenkbar war, und scheuten zurück vor dieser hohlen Stelle in meiner Verkaufsargumentation. Weil ich kein Gentleman war, konnte ich in einen anderen Staat übersiedeln, einen Lastwagen und schwere Sandpapierschleifmaschinen anschaffen und mich in der bescheidenen Kunst des Umgangs mit langsam trocknenden Versieglern, mit Polierpads aus Stahlwolle und Alkydlacken vervollkommnen. Halte dieKante feucht, um Schleifspuren zu vermeiden, und bringe dich nicht in die Klemme, arbeite mit dem Pinsel nicht so, dass du nicht mehr aus der Ecke herauskommst. Folge beim Streichen der Maserung, lenke deine Gedanken auf die Oberfläche und sorge für Zuluft, wenn du atmen willst. Junge Männer haben heutzutage wenig Lust, diesen Beruf zu ergreifen, obgleich der Markt für Sanierungen und Renovierungen aller Art expandiert, denn immer mehr sozial Höherstehende zieht es in die malerischen Altbauviertel. Jeder will sozial höherstehend sein. Am Ende hatte ich so viele fordernde Kunden, dass in den Ruhestand zu gehen die einzige Möglichkeit war, ihnen zu entkommen; dabei war der Beruf eines Versicherungsmaklers, zumindest für mich, immer ein mühseliges Geschäft gewesen. Die Leute machen sich mehr Sorgen um die Fußböden, auf denen sie gehen, als um die Angehörigen, die sie zurücklassen.

    Eine andere merkwürdige Gewohnheit, die ich habe, lässt sich nur im Dezember beobachten, wenn ich vor dem mittelgroßen, im Kolonialstil gehaltenen Haus mit Meerblick auf Cape Ann, wohin die Frau und ich vor dreißig Jahren gezogen sind, am Flaggenmast fünf Schnüre mit Weihnachtslichtern hisse, sodass eine Zeltform entsteht, die in der Nacht stark an die Lichtergirlanden eines unsichtbaren Baums erinnert. Ich habe die Schnüre mit zwei Verlängerungskabeln an einen Außenstrahler angeschlossen, sodass ich die Illusion mit einem Schalter innen im Haus bedienen kann. Bevor ich die Treppe zum Schlafzimmer hinaufgehe – «den hölzernen Hügel ersteigen», pflegte mein Großvater das zu nennen –, schalte ich die Lämpchen aus. Ich könnte das tun, ohne einen Blick nach draußen zu werfen, aber ich gehe zum nahenFenster, den Arm ausgestreckt, meine Finger am Schalter,
sodass ich sehen kann, wie die Lichter ausgehen
.
    Eben noch leuchten die Lichterketten hell und werfen ihr Abbild von einem Weihnachtsbaum hinaus in die Welt, und eine Nanosekunde später, so schnell, als vergehe überhaupt keine Zeit, während das Signal vom Schalter durch die Drähte läuft, sind die bunten, kerzenflammenförmigen Lämpchen – rot, orange, grün, blau, weiß – erloschen. Ich bilde mir immer ein, weil doch zwei dreißig Meter lange Verlängerungskabel die Elektronen quer durch den Garten führen, durch die Büsche und gefrorenen Blumenbeete, dass ich eine zeitliche Verzögerung wahrnehme, wie es einem bei einem Blitz und dem darauffolgenden Donner ergeht. Aber nein; die Verbindung zwischen den Lichtern und meiner Hand am Schalter erscheint unmittelbar. Die Lichter sind da, prägen dem Dunkel ein Bild von Festtagsfröhlichkeit auf, und dann sind sie fort.
Ich muss sehen, wie diese unmittelbare Transformation geschieht.
Ich sehe ein, dass dieses Bedürfnis etwas Ungesundes hat, und schwöre mir oft,
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