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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette
Autoren: Ingrid Hedström
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alles ernstlich schiefgegangen. Daß der amerikanische Zeitschriftenjob ihm die Möglichkeit gab, nach Villette zu fahren, hatte er als einen Wink des Schicksals empfunden. Renées Tochter war in Villette, und er konnte nicht aufhören, über sie nachzudenken. Wenn nun Renée etwas erzählt hatte? Er mußte Renées Tochter wenigstens mit eigenen Augen sehen, um zu entscheiden, ob sie eine Gefahr für ihn war. Er hatte wohl eigentlich nicht vorgehabt, in Villette etwas zu tun, nicht ernsthaft, aber als er das Koffermädchen, das Renée war, an der Place de la Cathédrale aus einem Taxi steigen sah, war er so gestresst gewesen, daß er definitiv entschieden hatte, daß er sein Rendezvous mit der blonden Tänzerin von der Prozession einhalten mußte. Daß sie zwei Freundinnen mitgenommen hatte, war nur eine zusätzliche Würze gewesen. Alles war so leicht gegangen. Danach hatte er sich wie gewöhnlich gestärkt und belebt gefühlt. Ganz einfach unverletzlich. Dann war er wieder nervös geworden bei dem Gedanken, daß der junge Weiss, der mit seinem fotografischen Gedächtnis geprahlt hatte, während er ihn bei der Cocktailparty in Erics Wohnung herumführte, sich vielleicht etwas ausrechnen konnte. Deshalb hatte er ihn nach Villette gelockt und getötet, obwohl das vermutlich ganz überflüssig gewesen war.
    Aber was er nie vergessen durfte, war, daß es Renées Schuld war, daß Simone tot war, und jetzt würde sie sterben. Dann würde er Frieden finden.

    Martine rannte im Zickzack über den Burghof zur Mauer, um herauszufinden, wo an der Mauer Tatia zusammen mit Jacques Martin hinaufgegangen war. Hinter sich hörte sie die Schritte von Bernadettes vernünftigen Schuhen mit flachen Absätzen, während sie gleichzeitig aus den Augenwinkeln sah, daß Philippe anders lief und an einer anderen Stelle der Mauer ankommen würde.
    – Da, sagte Bernadette leise, schau da, links.
    Einen kurzen Augenblick sah Martine, wie sich an einer der Luken in der Mauerkrone ein Kopf vor dem Himmel abzeichnete. Diese lag nahe an einer der steilen Treppen, die auf die Mauer hinaufführten, und sie lief dorthin, mit weit über die Knie hochgerutschtem Rock. Die Treppe war hoch, mit steilen Treppenstufen, die zur Schrittlänge keines Menschen paßten. Mit den hohen Absätzen war es beinah unmöglich hinaufzukommen. Martine blieb auf halbem Weg nach oben stehen und trat aus Renées Schuhen und lief dann auf Strümpfen weiter. Sie spürte, wie von den spitzen Steinen die Strümpfe zerfetzt und die Füße blutig gerissen wurden, aber jetzt hatte sie das Tempo erhöht. Sie erreichte das Ende der Treppe und sah Tatia dastehen, mit dem Rücken zur Luke in der Mauer, und Jacques Martin, der dem Mädchen gegenüberstand, hatte die Fäuste an den Seiten geballt.
    Ich darf mir nicht anmerken lassen, daß ich Bescheid weiß, dachte Martine. Mit blutigen Fußsohlen ging sie zu dem Mädchen und dem Fotografen und sagte mit lauter und herzlicher Stimme:
    – Monsieur Martin, guten Tag! Tatia hat so viel von Ihrem Fotografieren geredet, daß ich gedacht habe, ich sollte meine Mittagspause hier verbringen, um mit dabeizusein, ich hoffe, das ist okay?
    Jacques Martin drehte den Kopf und sah sie mit einem Blick an, der kaum menschlich war, der lauernde kalte Blick eines Raubtiers, mit geweiteten Pupillen. Er sagte nichts. Martine ging zu Tatia und legte den Arm um ihre Taille. Sie spürte durch den dünnen Stoff des getupften Kleides, daß das Mädchen starr vor Angst war, gelähmt wie ein Kaninchen, das vom unbeweglichen Blick der Schlange eingefangen worden war.

    Einmal hatte er Simone und Renée zusammen fotografiert. Sie hatten vor seiner Kamera gescherzt und gelacht und posiert, und er hatte sich nicht anmerken lassen, daß er am liebsten nur Simone fotografiert hätte. Aber jetzt stand plötzlich Simone wieder hier neben Renée, als ob sie sie schützen wollte, als er gerade überlegte, ob er Renée erwürgen oder sie nur hinunterstoßen sollte. Das war doch Simone? Ihr Gesicht war im Schatten, so daß er es nicht genau sehen konnte, aber sie war blond und hatte ein Kleid an, das er wiedererkannte, Hélènes grünes Kleid, das Simone immer so gemocht hatte und das sie sich ausgeliehen hatte, als ihre Mutter mit Eric in die Schweiz gefahren war.
    Aber Renée mußte trotzdem sterben, Simone wußte ganz einfach nichts davon, daß die sogenannte Freundin sie verraten hatte, und wenn Renée ihre wohlverdiente Strafe bekommen hatte, würde er seiner geliebten
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