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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette
Autoren: Ingrid Hedström
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Reise ins Herz der Finsternis gewesen, und das Herz der Finsternis war ein Keller gewesen, in den ein ängstlicher kleiner Junge eingesperrt wurde, um ein Mann zu werden. Ebenso wie Huguette Morin konnte er in sich einen Funken von Mitgefühl mit dem Kind Roger de Wachter finden, eine matt flackernde Flamme, kaum merkbar neben dem rotglühenden Zorn über die Verbrechen des Mannes. Wäre Tatia gestorben, hätte es in seinem Herzen für nichts anderes Platz gegeben als brennenden Haß, aber jetzt saß seine Tochter wohlbehalten an seiner Seite und aß Eis, und die kleine Flamme des Mitleids flackerte noch schwach.
    Eine Kindheitserinnerung schwamm plötzlich aus der bodenlosen Tiefe des Unterbewußtseins an die Oberfläche,deutlich und scharf wie ein altes Schwarzweißfoto. Philippe war fünf gewesen und hatte einen wunderbaren Tag gehabt, er hatte Renée geholfen, auf die einjährige Martine aufzupassen, die wirklich sehr anstrengend sein konnte, und er hatte mit einer Straminstickerei anfangen dürfen, die zwei ganz entzückende Katzenjunge darstellte. Aber sein Vater, der Polizeikommissar, der erste schöne Mann in Uniform, den er vergöttert hatte, hatte sich überhaupt nicht gefreut, als Philippe von seinem gelungenen Tag erzählt hatte. Er hatte nichts gesagt, aber seine Miene und Haltung hatten Philippe fühlen lassen, daß er etwas falsch gemacht hatte. Dann hatten die Eltern leise miteinander gesprochen, und er hatte begriffen, daß sie über ihn geredet hatten, und Renée hatte die Stimme erhoben und etwas gesagt, das er damals nicht begriff. Aber als die Stimme der Mutter jetzt aus den Windungen der Erinnerung auftauchte, sagte sie ihm desto mehr. »Laß ihn, Gustave«, hatte sie mit müder Stimme gesagt, »laß ihn, wie er ist. Ich hasse diese Dressur, ich habe gesehen, was sie anrichten kann, ich habe gesehen, was sie mit dem armen Roger gemacht hat. Ich habe viel zu viele richtige Männer gesehen und was sie anrichten können, ich habe lieber einen Sohn, der Katzenjunge stickt«. Renée hatte viel geahnt, sowohl über ihn als auch über Roger de Wachter, aber sie hatte sich entschieden zu schweigen.

    Tatia kratzte den letzten Rest Nougateis und Schlagsahne von der Innenseite der Schale. Dann löffelte sie die rote Beere, die sie bis zuletzt aufbewahrt hatte. Alle schienen sich nach dem Tumult auf der Mauer große Sorgen um sie zu machen und nervten damit, daß sie ins Krankenhaus fahren sollte. Aber in Wirlichkeit hatte sie sich nie so glücklichund sicher gefühlt, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Zum ersten Mal seit vielen Jahren saß sie mit ihren beiden Eltern hier, und die redeten sogar miteinander! Auf irgendeine unbegreifliche Weise waren sie zusammen hierher nach Villette gekommen, um sie vor dem mörderischen Jacques Martin zu retten. Das war ein Wunder, und verglichen damit bedeuteten die blauen Flecken an ihrem Hals und die Schmerzen in der Kehle überhaupt nichts.
    Da war auch noch etwas anderes, etwas, das sie niemandem erzählen wollte. Sie war schreckensstarr gewesen, als Jacques Martin sie mit diesem komischen Blick angesehen und an die Mauer gedrückt hatte, so voller Angst, daß sie sich fast in die Hose gemacht hätte. Sie hatte begriffen, daß er es war, der Giovanni getötet hatte, und daß er jetzt vorhatte, auch sie zu töten. Aber als er dann die Finger an ihren Hals gedrückt hatte, war es, als ob die Angst verschwunden und ein anderer Teil des Gehirns eingeschaltet worden wäre. Sie hatte zu dem blauen Himmel hinaufgesehen und an Giovannis braune Renaissancejacke gedacht und daß sie selbst etwas Ähnliches hätte anhaben sollen, dann hätten sie auf ihren Bahren auf der Grande Place liegen können, Seite an Seite wie Romeo und Julia. Sie sah das bronzefarbene Renaissancekleid, das sie hätte tragen können, vor sich, jedes verzwickte Detail so deutlich, daß sie es hätte zeichnen können. Es hatte vermutlich nur Sekunden gedauert, aber es war ein Gefühl gewesen, als hätte sich die Zeit verlangsamt und der Augenblick eine Ewigkeit gedauert. Sie hatte wirklich vor, das Kleid zu zeichnen, sobald sie Gelegenheit dazu hatte. Vielleicht hatte es etwas mit dem zu tun, was Sophie gemeint hatte, als sie von einer Scherbe aus Eis im Herzen gesprochen hatte.
    Tatia war begieriger denn je, mit Sophie arbeiten zudürfen. Sie ahnte, daß sie gezwungen sein würde, dafür zu fighten, jetzt, wo sie beinah ermordet worden war und all das, und nachdem Philippe und Bernadette
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