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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette
Autoren: Ingrid Hedström
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hatte sie sie hängenlassen. Und jetzt stand sie hier vor ihm, in Simones Kleid, dem cremeweißen mit den schwarzen Punkten, das er sehr wohl wiedererkannte. Es war eine solche bodenlose Frechheit, daß ihm beinah die Luft wegblieb, obwohl er nie geglaubt hatte, daß Renée Collignon so gewissenlos sein würde, daß sie zuerst Simone tötete und dann ihr Kleid stahl.
    Es dröhnte in seinen Ohren, wie es das in seinen Simone-Augenblicken, wenn die Vergangenheit und das Jetzt imendlosen Fluß von Geschehnissen und Erinnerungen in der Zeit verschmolzen, immer tat. Alles hatte an dem Tag angefangen, als er Simone auf einen Ausflug zu zweit mitgenommen hatte. Es war ein Frühlingstag, an dem die Sonne nach dem langen, kalten Kriegswinter endlich wieder zu wärmen begann. Sie hatten getrocknetes Kriegsbrot gegessen und mit Wasser vermischten Wein getrunken und zusammen gelacht. Simone hatte sich träge an einen Baumstamm gelehnt und die Arme zur Sonne gereckt, offen und glücklich, wie er sie noch nie gesehen hatte. Sie war so schön gewesen mit ihren blonden Haaren offen über den Schultern, und er hatte das Gefühl gehabt, daß er sie besaß, wenn er ihr Bild in seiner Kamera einfing. Aber als er ihr dann gesagt hatte, daß er sie liebte, hatte sie ihn ausgelacht, vielleicht nicht höhnisch, aber nachsichtig, als wäre er noch ein Kind. Danach hatte er sie gehaßt. Er hatte, verborgen von der Gardine, am Fenster gestanden und zugesehen, als das Auto von der Gestapo vor Simones Haus anhielt. Er hatte sich inzwischen selbst liebkost, und als er sah, wie sie Simone brutal herausschleppten, war er gekommen, ein langer spritzender Orgasmus, herrlicher, als er ihn je in seinem Leben erlebt hatte. Simone zu lieben war sie zu besitzen, sie zu besitzen war Macht über sie zu haben, und Simone zu verraten, wie er es getan hatte, war die äußerste Möglichkeit, sie zu besitzen. Zu ihrem eigenen Besten natürlich, Frauen mußten immer gezüchtigt werden, damit sie wurden, wie sie sein sollten, das war die einzige der vielen Lektionen seines Vaters, die er wirklich angenommen hatte, Frauen mußten gezüchtigt werden, genau wie Kinder und Hunde. Aber daß sie nie zurückgekommen war, war die Schuld der verfluchten Renée, und die haßte er wirklich. Jetzt stand sie da in Simones Kleid und schwatzte, aber er hörte nicht, was siesagte, weil es so in seinen Ohren dröhnte, aber es spielte keine Rolle, was sie sagte, sie mußte ganz einfach sterben. Auf diese Weise würde er Simone rächen und endlich frei werden.

    – Ist es gut hier, oder scheint die Sonne zu direkt darauf? fragte Tatia, als sie an einer Luke in der mit Zinnen versehenen doppelten Mauer stand, die die Zitadelle umschloß. Darin gab es in gleichmäßigen Zwischenräumen Treppen, die zum Gang zwischen den beiden Mauern hinaufführten. Von ihrer Position aus sah sie, wie sich Villette unter dem Kalksteinfelsen, der zum Fluß hin steil abfiel, wie eine Spielzeugstadt ausbreitete. Die Meuse war ein sich windendes blaues Seidenband weit da unten unter dem strahlend blauen Junihimmel.
    Tatia war unerklärlich nervös gewesen, als Sophie sagte, sie werde im Café der Zitadelle auf die Toilette gehen, aber Tatia und Jacques könnten schon auf die Mauer hinaufgehen und einen guten Platz zum Fotografieren aussuchen. Jacques Martin hatte seine Kameratasche im Gang abgestellt, und jetzt sah er sie auf eine Weise an, die sie an das Märchen von Rotkäppchen denken ließ, das ihre Eltern ihr vorgelesen hatten, als sie klein war – »warum hast du so große Zähne, Großmutter«. Jacques Martin sah sie mit einem Blick an, der seltsam still und tot war, und sie wußte plötzlich mit absoluter, blutgefrierender Sicherheit, daß er ein Wolf in Fotografenkleidung war und daß sie in Lebensgefahr schwebte. Aber sie durfte sich nicht anmerken lassen, daß sie ihn durchschaut hatte.

    Mehr als alles andere hatte er ein Gefühl der Befreiung empfunden, als er erfuhr, daß sein Vater tot war. Keinerhatte es ihm erzählt, aber seine Tante Philomène hatte eine drei Wochen alte Nummer von Le Soir hingelegt, in der man in einer staunenerregend kleinen Notiz lesen konnte, daß der Kollaborateur an einem naßkalten Mittwochmorgen im Morgengrauen hingerichtet worden sei. Der Vater, der einen gigantischen Schatten auf seine Kindheit geworfen hatte, war zu einer Notiz in der Zeitung reduziert worden, als ob sein Tod überhaupt nichts bedeutete. Das hatte ihn in richtig gute Laune versetzt. Damals
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