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Die toten Mädchen von Villette

Die toten Mädchen von Villette

Titel: Die toten Mädchen von Villette
Autoren: Ingrid Hedström
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plötzlich miteinander sprachen, konnten sie eine gemeinsame Front bilden. Aber sie würde bekommen, was sie wollte. Sie lächelte Sophie an.

    Sophie lächelte zurück und nippte an ihrem Espresso. Sie hatte eigentlich ein etwas schlechtes Gewissen, weil sie Tony auf dem Burghof aufgehalten hatte, als Martine und Bernadette die Treppe hinaufgestürzt waren. Sie hatte ihn nur gebeten zu erklären, was los war, aber die halbe Minute, die das gedauert hatte, hätte Tatia das Leben kosten können, wären Martine und Bernadette nicht so tatkräftig gewesen, daß sie Jacques Martin ohne Tonys Hilfe überwältigen konnten. Zum Glück hatte sich alles auf das beste gefügt, und niemand schien Sophie zu tadeln. Tony saß neben ihr, den Arm nonchalant über die Rückenlehne ihres Stuhls gelegt, und sah sie an, als wäre Sophie nahe daran gewesen, erwürgt zu werden.
    Es fiel ihr immer noch schwer zu begreifen, daß Jacques Martin, den sie schon so lange kannte, ein Mörder war und es wahrscheinlich schon gewesen war, als sie ihm bei den Filmaufnahmen in Namur vor siebenundzwanzig Jahren zum ersten Mal begegnet war. Freunde waren sie Gott sei Dank nie geworden, es war eine berufliche Beziehung gewesen, angenehm, aber nicht wichtig. Und nur bei den Filmaufnahmen damals vor so langer Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, daß er sich für sie als Frau interessierte. Damals hatte sie bei seinen Annäherungsversuchen Unbehagen empfunden, und das lag nicht nur daran, daß sie sich mehr für Eskil Lind interessierte. Seine Art zu flirten hatteetwas Unreifes, etwas, das mit den reifen und klarsichtigen Bildern, die er machte, nicht übereinstimmte. Er fotografierte wie ein Mann und flirtete wie ein Halbwüchsiger, dachte Sophie. Hatte Jacques Martin je eine Frau gehabt?
    Sie hatte noch nicht ganz begriffen, wie alles zusammenhing. Philippe und Martine hatten nur Bruchstücke der Geschichte erzählt, wie sie beide unabhängig voneinander dem Fotografen auf die Spur gekommen waren. Wenn Sophie es recht verstanden hatte, hatte Jacques Martin als Halbwüchsiger Philippes und Martines Mutter Renée an die Nazis verraten, so daß sie im Konzentrationslager gelandet war, und heute hatte er versucht, Renées Enkelin zu erwürgen, war aber von Renées Tochter aufgehalten worden. Das Ganze hatte etwas sehr Theatralisches, dachte Sophie, die langen Schatten des Krieges über drei Generationen, Verzweiflung und Rache. Etwas von Shakespeare, oder eher Aischylos’ »Orestie«? Wenn sie es sich überlegte, war dieser Burghof wie geschaffen für Theaterinszenierungen. Daß sie das nicht schon früher gesehen hatte! Mit neuem Eifer betrachtete sie die Treppen, die hinauf auf die Mauer führten, und die Bogenöffnungen auf der Bodenebene, so geeignet für Auftritte und Abgänge. »Macbeth« vielleicht, oder »Othello«? Das wäre perfekt! Sie mußte nur die Akustik überprüfen, aber das ging wohl nicht, jetzt, wo die Mauer als Tatort abgesperrt war. Sie mußte Martine fragen, die Schwägerin wußte sicher, wann sie das Absperrband wegnahmen.

    Martine wackelte in der Wanne mit den Zehen. Das heiße Wasser war abgekühlt und fühlte sich an ihren wunden Fußsohlen angenehm lau an. Sie hatte Renées Schuhe auf der Treppe aufgehoben, als sie als allerletzte hinter denPolizisten, die den handschellengesicherten Jacques Martin führten, und Tony, der Tatia trug, während Bernadette daneben lief und mütterliche Laute ausstieß, hinuntergehinkt war. Mit Renées Schuhen in den Händen hatte sie die Fragen der Journalisten beantwortet, dann hatte sie vom Café aus zu Hause angerufen und Thomas gebeten, mit einem Paar neuer Strumpfhosen und ihren schwarzen Magli-Schuhen zur Zitadelle zu kommen.
    Sie fühlte sich matt und ausgelaugt. Der Adrenalinspiegel begann nach der heftigen Entladung oben auf der Mauer abzusinken. Aber sie hatte Nadias, Peggys und Sabrinas Mörder gefunden, sie hatte es geschafft, ihn festzusetzen, bevor sie von der Untersuchung abgezogen worden war. Es gab immer noch vieles zu klären, bevor Jacques Martin des dreifachen Mordes angeklagt werden konnte, und jetzt mußte sie die Voruntersuchung tatsächlich einem der anderen Untersuchungsrichter überlassen. Sie konnte nicht gut ein sachliches und unvoreingenommenes Verhör mit dem Mann führen, dem sie in den Arm gebissen hatte, während er versucht hatte, ihre Nichte zu erwürgen.
    Das Wichtige war, zuerst einmal festzustellen, daß sie und niemand sonst den Mord gelöst hatte.
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