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Die toten Frauen von Juárez

Die toten Frauen von Juárez

Titel: Die toten Frauen von Juárez
Autoren: Sam Hawken
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der Lagerhalle empor zu ihm. Sevilla erstarrte mit der Waffe in der Hand.
    »Policía!«,
hörte er.
    Plötzlich gingen die großen Torflügel am Ende des Gebäudes auf; zwei der Leibwächter rannten in unverhohlener Panik herein. Draußen auf der Straße blinkten rote und blaue Lichter, und plötzlich herrschte Chaos.
    Unten in der Lagerhalle flüchteten die Männer mit ihren Huren zu den Ausgängen, doch Scheinwerfer, die draußen aufleuchteten, zwangen sie zum Rückzug. Befehle, sich zu ergeben, tönten plärrend aus Lautsprechern. Manche versuchten ihr Glück an der Hintertür.
    Sevilla wollte etwas für das arme Mädchen hinter sich tun, doch dafür blieb jetzt keine Zeit. Er sprang die Treppe hinunter.
    Schüsse ertönten auf der Straße, eine verirrte Kugel zerstörte ein Fenster hoch oben. Leute stürmten um die festliche Tafel herum, an der Madrigal einsam und allein stand. Er floh nicht. Mit steinerner Miene beobachtete er alles, denn er hatte keine Angst.
    Er sah Sevilla. Sevilla sah ihn. Sevilla hielt die Waffe in der Hand.
    »Ich kenne Sie«, sagte Madrigal über den Lärm hinweg.
    Sevilla schoss Madrigal eine Kugel durchs Auge.
    Die Bundespolizei stürmte durch die offenen Tore der Fabrikhalle. Sevilla hatte sich bereits hingekniet, legte die Waffe auf den Boden und hielt die Marke über den Kopf. Männer in schwarzen Schutzwesten waren überall, rannten die Stufen in den ersten Stock hinauf, positionierten sich um die vergewaltigen Mädchen und um die Leichen des Boxers und Madrigals.
    Auf der Straße beherrschten stroboskopähnliche Explosionen unterschiedlicher Lichter und schwarz-weiße Polizeifahrzeuge das Bild. Jemand wickelte Sevilla in eine Decke und führte ihn zu einem Krankenwagen. Er sah, wie die junge Frau, die Hernández vergewaltigt hatte, in einen anderen Krankenwagen verladen wurde, aber er sah sie nur so kurz, dass er keine Möglichkeit hatte, mit ihr zu sprechen.
    Er blickte zu dem Mietshaus. Er fand Rudolfos Fenster, hinter demgelbliches Licht erstrahlte. Die Silhouette des steinalten Mannes zeichnete sich ab, und als wüsste er, dass Sevilla ihn sah, hob er die Hand zum Gruß.

ACHTZEHN
    Es dämmerte abermals, und da ließen sie ihn frei. Sie hatten Fragen, so viele Fragen, die er ausnahmslos mit Halbwahrheiten und Lügen beantwortete. Am Ende blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihn freizulassen; die Beweise waren eindeutig, die Männer in Gewahrsam, die Toten registriert. Er bat einen der
federales,
ihn zu seinem Auto zu bringen.
    Kaum saß er hinter dem Lenkrad, fuhr er zum Hospital General. Er trug sich am Empfang ein und begab sich zu Kellys Zimmer. Es war leer.
    Sevilla ging ins Schwesternzimmer. »Pardon, ich möchte Kelly Courter besuchen. Er lag hier, in diesem Zimmer.«
    Die Schwester runzelte die Stirn. »Wen?«
    »Kelly Courter. Er wurde hier behandelt, da drüben in dem Zimmer.«
    »Sie meinen den Amerikaner?«
    »Ja, den Amerikaner. Kelly Courter. Wohin wurde er gebracht?«
    »Einen Augenblick,
Señor.
« Die Schwester griff zum Telefon. Sie wandte Sevilla den Rücken zu und warf ihm einmal über die Schulter einen Blick zu, der ihm nicht gefiel. Als sie wiederkam, gab sie sich höflicher. »Bitte warten Sie auf Señora Garza. Sie ist die Oberschwester.«
    Sevilla sah wieder in Kellys Zimmer, als könnte er doch dort sein und sich alles als Irrtum erweisen, doch das Bett blieb leer, die Laken makellos glatt und straff gespannt. Die leisen Maschinen, die seine Atmung unterstützt und Puls und Körperfunktionen überwacht hatten, waren nicht mehr da. Nicht nur alles Leben schien aus dem Raum verschwunden zu sein.
    »Señor?
Pardon.«
    Er wandte sich von dem Zimmer ab. Die Oberschwester stand in ihrem weißen Kittel vor ihm.
    »Ich suche nach Kelly Courter. Er lag in diesem Zimmer.«
    »Er wurde verlegt.«
    Sevilla konnte das Gefühl, das ihn durchströmte, nicht beschreiben. Es war mehr als Erleichterung oder Glück, aber etwas, das mit beidem verwandt war; sein Gesicht fühlte sich warm an, er verspürte ein Kribbeln amganzen Körper. Er packte Señora Garza am Arm und weinte fast. »Geht es ihm gut?«
    »Ja. Er wurde in die Station für dauerhafte Pflege verlegt. Folgen Sie mir.«
    Sie ließen die Intensivstation hinter sich und begaben sich in den zweiten Stock. Kelly lag in einem Zimmer mit zahlreichen anderen Betten, teils belegt, teils frei, zwischen denen Vorhänge, die von Schienen in der Decke hingen, die einzigen Trennwände bildeten. Hier wirkte Kelly
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