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Die Tochter des Schmieds

Die Tochter des Schmieds

Titel: Die Tochter des Schmieds
Autoren: Aufbau
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als Referendarin arbeiten.
    – Das arme Kind ist früher eingeschult worden, doch jetzt ist sie wieder zu jung, sagt Arzu, sie wird ein Jahr verlieren.
    Man schenkt ihr Glauben. Doch kann man Jahre verlieren oder verlegen, vergessen oder vergeuden?
    – Wir lassen einfach ihr Alter heraufsetzen, sagt Timur.
    Doch das ist nicht mehr so einfach wie früher, die Gesetze sind nicht mehr so lax, sie müssen vor Gericht, sie müssen |293| Zeugen beibringen, erst gegen Ende des Sommers sind alle Formalitäten erledigt, und der Richter fragt einen Nachbarn des Schmieds:
    – Und Sie sind sich sicher, daß sie schon im März geboren wurde?
    – Ja, doch, der Schnee war schon weg, und die Bäume grünten, aber nicht mal die Kirschen standen in Blüte, es muß Frühling
     gewesen sein, es war noch kühl. Ob es Anfang oder Mitte März war, verehrter Richter, es ist lange her, ich kann es nicht beschwören.
    Der Nachbar schuldet Timur eine kleine Summe Geld, und er ist jemand, der sich aufs Reden versteht.
    – Und wieso, fragt der Richter Timur, haben Sie damals angegeben, ihre Tochter sei im Oktober geboren?
    – Ich wollte keine Strafe zahlen. Wir haben damals auf dem Dorf gewohnt, ich kam nicht in die Stadt, und dann wollte ich keine
     Strafe zahlen, weil ich es zu spät gemeldet habe.
    – Sibel, wendet sich der Richter an Sibel, dann hält er inne und läßt die anderen rausschicken, Timur, den Nachbarn und den
     zweiten Zeugen.
    – Sibel, fängt der Richter wieder an und sieht die hellhäutige, schüchterne, dünne Frau, die augenscheinlich aufgeregt ist,
     aufmerksam an. Du brauchst vor mir keine Angst zu haben, mein Mädchen, ich will dir nichts Böses. Möchte dein Vater irgendein
     krummes Ding drehen, benutzen sie dich gerade für etwas?
    Sibel schüttelt den Kopf.
    – Du machst das aus freien Stücken, ja? Es hat dich niemand gezwungen. Sieh, jetzt hast du die Möglichkeit, zu sagen, wenn
     man dich gezwungen hat. Dann werde ich einfach den Antrag ablehnen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen anzweifeln. Die Kirschen
     blühten noch nicht, all das ist achtzehn Jahre her, wie soll man so etwas behalten? Also?
    – Ich will das so.
    – Du bist dir sicher?
    – Ja.
    |294| – Gut.
    Als Sibel den Gerichtssaal verläßt, ist sie auf dem Papier volljährig. Ab Herbst wird sie ein Jahr lang als Referendarin in
     einer Dorfschule arbeiten.
     
    Murat verschwindet ein zweites Mal für einige Tage, ohne zu sagen, wohin. Als er wiederkommt, zeigt er allen stolz seinen
     Arbeitsvertrag. In drei Wochen soll es losgehen, nach Deutschland, nach Duisburg, wo er ein Jahr lang unter Tage arbeiten
     soll.
    – Ob Deutschland oder Gefängnis, wo ist da der Unterschied für mich? fragt Suzan. Sie sieht die Hoffnung in Murats Augen,
     aber sie möchte nicht allein sein. Ihr ist ein Mann lieber, der den ganzen Tag kein Wort sagt, als einer, der nie da ist.
     Jemanden zu lieben, der nicht da ist, ist für sie schwerer zu ertragen, als nicht mehr geliebt zu werden von jemandem, den
     sie täglich sieht.
    – In diesem Drecksland hier komme ich zu nichts, sagt Murat. Ich werde dir Geld schicken von drüben. Und ich werde uns eine
     Wohnung suchen, und dann wirst du mit den Kindern nachkommen. Dort haben alle Wohnungen Heizung und Strom, jeder hat ein Auto,
     aus den Hähnen kommt warmes Wasser, wir werden leben wie die Paschas, und niemand wird mir mehr ans Bein pinkeln, niemand
     von diesen ehrlosen Taugenichtsen.
    – Was soll ich in einem fremden Land? fragt Suzan weinend.
    – Und was soll ich hier? Hier werde ich keinen Fuß mehr auf den Boden kriegen. Ich habe die Schnauze voll. Ich gehe, und ich
     werde dich nachholen. Das geht, ich habe mich erkundigt.
    Im Herbst kommen Briefe von Murat. Er schreibt von den sauberen Straßen, von den Straßenlaternen, von den Kinos und den bunten
     Lichtern in der Nacht, er schreibt von großen Kaufhäusern, von Rolltreppen und Aufzügen. Er verliert kein Wort über das Wohnheim,
     wo sie zu sechst in ein Zimmer gepfercht |295| sind und er das Gefühl hat, immer noch im Gefängnis zu sitzen. Er schreibt nicht, daß er diese Sprache wahrscheinlich nie
     lernen wird und daß er nicht unter Tage arbeitet, sondern am Hochofen schwitzt. Er schreibt nicht, wie sie ihn auf den Straßen
     ansehen und daß man kaum Knoblauch findet und keinen getrockneten Traubensaft, daß die Walnüsse nicht schmecken wie zu Hause.
     Er schreibt auch nicht, daß er hier niemanden auf der faulen Haut liegen sieht, daß er
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